Blut und Wasser

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Familiärer Zusammenhalt in Ferienzeiten

Unter dem Titel „Blut und Wasser“ möchte ich unsere Semesterferien zusammenfassen. Kurz. Es war anders als geplant. Und das lag an mir. Ich war müde, ich war krank und war mutig. Ich habe das, was wir geplant hatten, abgesagt. Alle anderen waren gesund. Niemand hatte Einwände. Was für ein Segen. Wie herrlich hätten die Ferien sein können, wenn nicht ich, am Ende des Winters, Erschöpfungsanzeichen gesammelt hätte, wie andere Porzellanelefanten.

Dann waren alle erleichtert. Stille Stimmen murmelten im Haus, tauschten sich über die Erleichterung aus, dass keine Pläne vor uns lagen, die um jeden Preis erfüllt werden sollten. Es trudelten Fotos von verschneiten Hängen ein, von leuchtenden Schikurs-Siegerehrungen, von Hüttengaudi und Sonnenschein. Ja, das hätten wir auch haben können. Uns war dieses Jahr anderes bestimmt.

Bündnisse fürs Leben

In einem Haus mit drei kleinen und einem großen Mann geht es naturgemäß um Bündnisse. Wer mit wem? Wer hat schon mit wem? Wer hat noch nicht mit wem? Und wer hat vom anderen die Nase voll? Der Große fuhr zwei Nächte zu den Großeltern. Der Mittlere stöhnte: „Endlich Ruhe“.  Der Kleinste weinte dicke Tränen. Dann verbündeten sich die sonst gekrönten Streithähne und spielten 2 Tage Extremstreitfrei.

Dann kam der Große zurück, der Mittlere fuhr ab. Der Große seufzte: „Endlich Ruhe“ und verbündete sich durch Arbeit am Campingbus mit seinem Papa. Der Kleinste weinte am Bahnhof dicke Tränen. Und dann waren alle wieder da. Im frühlingshaften Trampolin vereinten sich die drei Brüder wieder. Groß, mittel und klein, hüpften und hüpften.

Dann hörte ich durchs gekippte Fenster Tränen, Wut und Aggression. Erbost, erschüttert und zerkratzt kam der Kleinste und polterte an die Terrassentür. Schutz beim einzig „weichen“ Familienmitglied (Das sagt der Kleinste!) suchend erklärte er mir die Lage: „Mama, sie ärgern mich dauernd. Mama, das ist so gemein. Aber Mama, ich muss bei ihnen sein. Ich liebe sie so. Sie sind mir so wichtig.“ Ja, liebe kritische Leserinnen und Leser, der Fünfjährige kann so deutlich sagen, was er spürt. Das kann er. Nach diesem Bekenntnis eilte er, die dicken Tränen noch auf den Wangen wieder zurück ins Trampolin, wo Groß und Mittel miteinander spielen. Ich brauche wohl nicht weiter zu erzählen, dass sich nach 5 Minuten, oder waren es nur 3, das ganze Spektakel wiederholte.

Auf dem Weg zur Hölle hätte ich ein Segensgebet gesprochen.

Dann der vorletzte Ferientag. Frisörbesuch. Der Große schnappte dem Mittleren die Pole-Position am Waschtisch weg. Hämisch grinsend, mit einem lapidaren „Ich bin Erster“, löste er bedrohliches Säbelrasseln beim Mittleren aus. Passender wäre eine furchterregende Kriegsbemalung anstelle eines coolen Haarschnitts gewesen. Ich konnte das Blut zwischen den Scheren, Föns und Lockenwicklern riechen, als er andeutungsweise einen Stuhl umstoßen wollte.

Der Kleinste machte es sich leicht. Er wiederholte (wohlgemerkt kurz nach dem Frühstück) folgenden Satz gefühlte 100 Mal,  vor Entspannung suchendem Publikum: „Ich habe Hunger. Und wenn ich nichts zu essen bekommen, drehe ich durch“. Hätte sich der Boden unter meinen Füßen aufgetan, hätte ich auf dem Weg in die Hölle ein Segensgebet gesprochen. Übrigens waren sich alle drei einig, dass sie nach dem Frisör gerne Pommes im Kunsthaus essen würden. Nix da. Ab nach Hause.

Dann gestern. Der letzte Ferientag. Mehr Blut als Wasser. Jeder gegen jeden. Wir Großen waren versucht, auch mitzumachen.  Zwischendrin dachte ich mir, dass es auch eine Wohltat ist, wenn es so richtig unharmonisch ist. Sätze wie: „Bitte sprich mich jetzt nicht mehr an, ich explodiere sonst“, spricht man ja ungern aus. Und doch sind sie ein wenig wie Wasser aufs Blut.

Orte, die Flügel verleihen

Mirijam_Bräuer_Mirijams Schreibuniversum_Schauplätze 2_Naranjas

Maya und Ben in Andalusien

Ein Schauplatz meines Romans liegt in Andalusien. Schon der klingende Name Andalusien lässt in meinem Inneren Farben und Gerüche aufsteigen, die ich in einer fernen Zeit in mein Herz gepackt habe. Erinnerungen, Träume und Sehnsüchte speisen meine Geschichten ebenso wie reelle und konkrete Erfahrungen. Dieses Andalusien. Vor vielen Jahren durfte ich Andalusien erkunden, dort atmen und barfuß über seine Erde gehen. Ich durfte in die Geschichte dieses Landes eintauchen, die vom ewigen Ringen um Toleranz erzählt und die Gerüche der Erde, der Küche und der alten Mauern einatmen. Aus diesen Erfahrungen, meiner Liebe zu diesem Stück Erde und seiner historischen Bedeutsamkeit entstand ein fast magisches Kapitel in meinem Roman. Wir folgen dort den Spuren eines glücklosen spanischen Königs, versinken in Licht und Wärme der spanischen Sonne und ruhen unter alten Steineichen. Wenn Flügel erschaffen werden könnten, hier, auf der „Finca las Naranjas“, scheint es möglich …

Wenn der Herbst zuschlägt

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Gedanken über Notfallpläne, Querdenkereien und das heilsame Vergessen

Wir Eltern sind mit einem hilfreichen Mechanismus ausgestattet, der uns erlaubt, unliebsame Erfahrungen mit unseren Kindern zu vergessen. So können wir heute meist auf die vielen schlaflosen Nächte mit unseren Babys lächelnd zurückblicken. Wir tragen die Supermarkt-Trotzattacken unserer Kleinkinder schamlos-milde in unseren Herzen. Und wir vergessen, wie hart die vielfältigen Übergänge vom Sommer in die kühlen Jahreszeiten sind.

Sommerlich verklärt, mit Restbräune an den Wangen, Aperol in den Adern und Meerblick am inneren Horizont, gehen wir zu Schul- und Kindergartenbeginn beherzt ans Werk. Mit dem unbeugsamen Glauben daran, dass alles gut gehen wird. Meist geht auch alles gut. Wir sehen buntes Herbstlaub, warme Wollmützen, Kinder mit roten Bäckchen und nebelverhangene Sonntagsspaziergänge. Wir basteln an unseren Karrieren, kalkulieren den Alltag und seine Abläufe ausgehend vom Bestfall.

Bestfall. Notfall? Ausnahmezustände? Naiv.

So kommt es, dass wir uns mit unseren Sommerkräften begeistert, vielleicht unvorsichtig dem Herbst zuwenden. Wir blenden die Sonnenseite des Alltags ein und vergessen naturgemäß den Schatten. Der Schatten allerdings ist dick und breit. Er schlägt auf uns Eltern aus dem Hinterhalt mit einer Wucht an Forderungen ein, stapelt Termine übereinander, öffnet unbekannte Kampffelder des Zusammenlebens und erwartet von uns weiterhin sommerliche Gelassenheit, einem Reggae gleich.

Abgesehen von Einkaufslisten der Schulen und Kindergärten, Herbstjacken und Schuhen, die erneuert werden müssen, Hosen und Pullovern, die zu klein geworden sind, Strumpfhosen, die wieder über Kinderfüße gezogen werden müssen, Elternabenden bei Pfadfindern, Turnvereinen und Klavierlehrern, Müllsäcken, die weiterhin ausgeleert werden müssen, Betten, die immer wieder frisch überzogen werden müssen, trifft uns eine weitere „vergessene“ Sache hart, mitten ins Herz. Die Viren.

Viren – Schnupfenviren, Darmviren, Halsviren, Hustenviren. Wir hatten sie über den Sommer vergessen! Aus dem Hinterhalt schlagen sie zu. Ihre Macht liegt darin, dass sie, egal, wie sehr wir uns vorgenommen haben, gut für uns zu sorgen, das Kommando übernehmen. Von einem Moment auf den anderen werfen sie uns aus der normalen, gut durchdachten Ordnung, die ja so gut läuft, hinein in ein schier unüberblickbares Chaos aus Notfallplänen, Querdenkereien und Umorganisationen. Kinder erbrechen sich über Nacht über alle Betten, wir putzen, beruhigen, trauen uns selbst nicht mehr einschlafen. Kinder fiebern hoch, erzählen uns in fremden Sprachen ferne Geschichten, uns besucht die Angst. Kinder wollen nichts mehr essen, weil der Hals so weh tut, wir fragen still, „Könnten wir nicht die Zeit anhalten? Termine und Verpflichtungen einfrieren, frei von Konsequenzen?

Wie viel Pflegeurlaub ist noch übrig? Wer bleibt beim Kind? Welches Kind kann schon allein gelassen werden? Was tun wir mit Gefühlen, die sich zum Himmel türmen, wenn ein Kind allein mit dem Fernseher zurücklassen wird und jede Stunde ein Anruf kommt? Warum ist die Oma im Urlaub? Der Mann auf Geschäftsreise? Sollen wir auf die Klinik, oder noch zuwarten? Welcher Arzt hat Recht? Wie wehren wir uns selbst gegen die Viren, die uns entgegengeschleudert werden, die beim Kuscheln schamlos zu uns hinüberkrabbeln und unsere Ordnung fressen? Wer kauft ein? Wann holen wir die verabsäumte Arbeit wieder auf?  Wann erholen wir uns? Wer hilft uns, wenn wir selber Fieber haben? Wo versteckt sich die Kreativität, die eben noch durch uns floss? Sie wird anderswo gebraucht.

Mit offenen Armen eilt uns diese Kreativität zur Hilfe. Wir improvisieren! Wir Mütter und Väter sind Meister der Improvisation. Wir jonglieren Termine, Krankheiten, Pflichten und Bedürfnisse, halten uns optimistisch über Wasser, schnappen nach Luft und tauchen dann wieder ein, in das Land des Vergessens. Wir preisen unsere Netzwerke, die uns über Schattenzeiten helfen. Wir danken der Suppenköchin, dem liebevollen Anrufer, den Leidgenossinnen, die aufrichtig sagen, was ist. Wir lesen 100 Pixibücher, trocknen tausend Tränen, decken kalte Füße zu. Weil wir wissen: Wo Schatten ist, kommt auch das Licht!

Über Schauplätze des Lebens

Schausplätze

Überlegungen zu den Schauplätzen meines Romans

Wenn ich an einem Roman oder einer Story schreibe, möchte ich mit meinem Erzählen andere Menschen inspirieren. Ich möchte Geschichten erzählen, die in meinem Herzen schlafen und zum Leben erwachen wollen. Das Träumen, das Spüren und das neue Welten erschaffen gehört zum Geschichten erzählen. Ich möchte meine Leserinnen und Leser ein Stück weit entführen – in meine Phantasiewelten, in meine reellen und erdachten Erfahrungen. Ich lade sie ein, Orte zu erkunden, die vielleicht bekannte Namen haben, und doch noch immer Geheimnisse in sich tragen.

Orte können alles sein! Menschen, Gerüche, Blicke oder Plätze.

Mein Roman „Das Erschaffen von Flügeln“ gleicht einer kleinen Odyssee. Bewegungen finden in Zeit und Raum statt. Innenwelten verschieben sich, enthüllen neue Gesichter. Leben berühren sich, verzweigen sich und ergeben Sinn. Die vielen Schauplätze des Romans sind ein Sinnbild einer Suche. Es ist eine Suche, die wir alle kennen. Fragen wie „Wo komme ich her?, Wo ist mein Platz?, Wohin laufe ich?, sind treue Wegbegleiter unseres Lebens. Manche Orte nehmen uns sanftmütig in ihre Arme, manche bringen alles, was bisher war, ins Wanken. Manche Plätze schicken uns sofort wieder auf die Reise, oder nehmen uns alle Kraft. Andere wieder lassen uns endlich zur Ruhe kommen. Die Orte, die ich meine, das können Plätze sein, Menschen, Gerüche, Blicke. Wir alle können auf Erfahrungsschätze dieser Art zurückgreifen.

Dieses zur Ruhe kommen entspringt unserem unbändigen Wunsch nach Entfaltung und Verbindung. Es sind Pendelbewegungen, denen wir uns im Leben meist unbewusst hingeben. Auch Maya, die Protagonistin des Romans, trägt tief in sich den unfassbaren Wunsch, Ruhe zu finden. Erst verschüttet, liegt dieser Wunsch dann vor ihr, als sie den entscheidenden Schritt wagt. Sie kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit. Die Alm.

Was diese Alm für mich als Autorin bedeutet, und wo im echten Leben wir diese Alm finden können, schreibe ich in meinem nächsten Blogeintrag!

Wo ist Elsa? – Abschied von lila Gläsern und Glitzerkleidern

Mirijam Bräuer_Blog Mann hoch 4_Wo ist Elsa

In letzter Zeit vermisse ich Elsa. Elsa, das war das hellblonde fröhliche Wesen, das in einem grünen Glitzerkleid durchs Haus tanzte. Elsa, das war ein dem Märchen entsprungenen Wesen, das fern aller Grenzen zwischen weiblich und männlich den Tag konsequent bunter machte. Elsa, das war der Grund meines Glaubens an das Magische mitten unter uns. Wo ist Elsa hin?

Heute: Wir steigen vor dem Kindergarten aus dem Auto. Der Kleinste trägt über der Schulter seine Nemotasche, in die er heute selbst die Jause eingepackt hat. In seiner Hand ein altes hellrosa Lippgloss aus dem Fundus der Mutter.  Die Haube passt zur blitzblauen Benetton-Jacke, die schon mehrere Buben überlebt hat. „Mama, das Lippgloss habe ich mit, damit alle wissen, warum ich so gut dufte. Ich gebe es aber erst hinauf, wenn ich in der Regenbogengruppe bin.“ Mein Elsa-Herz schlägt freudig. Noch befinden wir uns in der Welt, in der alles sein darf. Eine Welt, in der es weniger Teilung, weniger Trennung, weniger Grenzen gibt. Wir queren die Straße, die beste Freundin des Kleinsten im Schlepptau. Ein paar Schritte weiter beschleunigt der Kleinste seinen Schritt. Ich höre ihn mehr zu sich selbst als zu uns murmeln: „Ich laufe jetzt schon mal voraus. Ich bin ein Mann und Männer dürfen überall hin.“ Für einen minimalen Augenblick hört mein Elsa-Herz auf zu schlagen.

Was ist passiert? Wer treibt Elsa fort von uns? Wer flüstert dem kleinen Mann diese Sprüche ein? Wie verinnerlicht er diese Sätze, ohne dass ich es auch nur merke und laut aufschreien kann. Ich bin Feministin, und allein deshalb bin ich davon überzeugt, dass Frauen UND Männer überall hingehen dürfen, wenn sie wollen. Ich komme nicht dazu, dem Kleinsten diese Überzeugung im morgendlichen Gewusel glaubhaft zu machen. Halte mich am Lippgloss fest, das der kleine Mann voller Freude nun in seiner – Göttin sei Dank – in allen Farben schillernden Regenbogengruppe, vorführt und das Geheimnis seines guten Duftes preisgibt.

Und plötzlich sind lila Gläser out

Schauplatzwechsel. Eine fast unzählbare Menge an jungen Burschen sitzt an unserem großen Küchentisch. Die großen Jungs haben mehrere Freunde spontan getroffen und zu uns eingeschleppt. Eine Landplage an unausgereifter Männlichkeit breitet sich in der Atmosphäre aus. Natürlich haben diese heranwachsenden Menschen großen Hunger und mein Eiervorrat wird mit einer Mahlzeit gegen null reduziert. Die nötige Proteinzufuhr wird serviert, bunte Wassergläser werden gefüllt. Der kleinste der Männer ist auch leicht erregt dabei. Er sitzt im letzten verbliebenen Tripptrapp-Stuhl und überschaut lustvoll die Menge. Er führt Wort, erzählt Witze und alle müssen lachen. Das schulden die Großen wohl dem Kleinsten. Als sein Glas, das in seiner Lieblingsfarbe Lila, auf den Tisch kommt, brüllt der Kleinste plötzlich: „Ich hasse Mädchenfarben! Ich will ein grünes Glas!“ Was für die anderen am Tisch scheinbar keiner weiteren Diskussion mehr wert ist, verknotet mir den Magen und holt mir Tränen in die Augenwinkel. Wortlos bekommt er von mir ein grünes Glas. Es sollte Trauer tragen, denn Elsa wird aus unserem Haus vertrieben. Für alle geht der Tag seinen freudigen Lauf. Mir ist, als wären die Polkappen verschoben.

Ich quäle mich, frage mich, wie kommt es, woher kommt es? Dieses plötzliche Bewusstsein einer unausgewachsenen Männlichkeit? Diese Notwendigkeit, sich unter Männern zu positionieren? Alles Weibliche entsetzt und wütend von sich zu weisen? Dieses Wissen, dass unter Männern so manche Dinge ungewünscht sind? Die überraschende, unpassende Härte in seinem Gesicht?

Wir haben ihm diese Überzeugungen nicht überbracht. Oder vielleicht schon? Wie viele von unterbewussten Rollenbildern übermitteln wir unseren Kindern genauso unbewusst? Wir haben ihn hier im geschützten Raum nur der sein lassen, der er sein wollte, mit Kleid, mit Hose oder pudelnackig. Und trotzdem sucht und findet der Kleinste immer wieder neue Positionen seiner Identität.

Ich bin nicht hier, um es zu erklären. Ich sehe mit neugierigen Augen zu, wie ein sehr junger Mann seinen Platz unter Männern, unter Freunden und in der Welt sucht. Dazu gehört in diesem Alter, wenn wir es zulassen, wohl auch, Rollen auszuprobieren und Freude daran zu haben, sich jeden Tag wieder neu zu erfinden.

Wann haben wir Erwachsene diese Art von Neuerfindung das letzte Mal gemacht? Tut so ein Sich neu erfinden nicht auch schrecklich weh? Macht es nicht Angst? Sind wir immer noch die, die wir waren als wir klein waren? Bleibt der Kern? Nur die Hülle aus Erfahrungen macht uns anders? Was wäre, wenn wir diesen Kern hin und wieder besuchen? Mal in eine andere Rolle schlüpfen? Mal das ganz Weibliche nach außen kehren, mal mit unseren männlichen Energien spielen? Mal wieder Fabelwesen sein? Oder wie wäre es, wenn wir uns vielleicht mal nicht ganz so ernst nehmen in unserer offensichtlichen Vergänglichkeit. I will always remember Elsa. Und: Lippgloss ist für alle da!

Stöckelschuhe – Elsa oder die Kunst auf Stöckelschuhen zu gehen

Längere Zeit haben Mann hoch Vier nichts von sich hören lassen. Was nicht heißt, dass das Leben sie nicht bunt weiter getrieben hat – in neue Lebensphasen, Krisen, Glücksmomente,  Männersachen in Kombination mit Frauensachen, wie zum Beispiel in dieser Geschichte wo es konkret  um die Kunst auf Stöckelschuhen zu gehen geht.
Die Ausgangslage dieser neuen Serie ist folgende. Der Kleine hat jubilierend den Kindergarten erobert, der Mittlere ist im leicht melancholischen Übergang zum Gymnasium, nach dem Großen hat die Pubertät himmeltief gegriffen. Der größte der Männer verabschiedet sich langsam von einer Phase, die allgemein als „Midlife“ bezeichnet wird, gespickt von tiefen Krisen und glanzvollen Hochgefühlen. Die Wellen und Wogen schlagen wechselnd kräftig und dann doch wieder sanft und gütig nach uns.
Ich bin begeistert, wenn du wieder mit einsteigst, „in unser Familienboot“, und uns auf der bewegten Fahrt auf hoher See mit „Mann hoch Vier“ begleitest!  Wir starten mit dem Kleinsten …

Elsa oder die Kunst auf Stöckelschuhen zu gehen

Der Kleinste liebt Stöckelschuhe. Eigentlich muss ich zugeben, dreht sich seine Welt vordergründig um die Welt der Schuhe. Er sagt zu den Schuhen „Schühe“, womit wir eigentlich schon ursächlich merken hätten müssen, dass Schuhe etwas Besonderes für ihn sind. Denn sonst spricht er alle „u“ auch als „u“ aus. Er verbringt Stunden in unserem Vorzimmer und sortiert meine Stöckelschuhe nach Farben, Größen und Höhen. Zwischendrin höre ich ein leises Seufzen „Warum kann ich nicht so schöne Schühe haben?“ Natürlich werden die Schuhe auch anprobiert. Gestöckelt werden darf damit nur im Vorzimmer, denn der naturbelassene, geölte Holzboden verkraftet das kraftvolle Stöckeln eines kleinen Mannes nicht. Also wird in unserem eher überschaubaren Vorraum gestöckelt, probiert, nachhaltig über die Ungerechtigkeit der Schuhverteilung in der Familie geseufzt und immer wieder versucht, doch noch den Holzboden für einen Walk auf Stöckelschühen zu erobern.
Wenn Besuch kommt, der meist durch das hysterische Bellen unseres Hundes oder die ohrenbetäubend laut eingestellte Gartentorklingel (er das wohl war) unüberhörbar angekündigt wird, bleiben dem Kleinsten gerade noch 60 – 120 Sekunden, ehe er freuden-stöckelnd dem Besuch entgegenlaufen kann. Und ich übertreibe nicht, wenn ich „laufen“ schreibe. Denn er hat durch stetes Üben gelernt, auf 10 cm – Absätzen unsere abschüssige Einfahrt hinabzulaufen. Sturzfrei.
Neben den Schuhen zählen Kleider zu einer weiteren Leidenschaft unseres Kleinsten. Auch hier sehe ich ihn oft vor meinem geöffneten Kleiderschrank stehen: „Mama, warum habe ich nicht so schöne Kleider?“ „Mama, warum trägst du nicht jeden Tag so schöne Kleider?“ Aber der junge Mann weiß sich zu helfen. Ausrangierte Mama-Nachthemdchen, trägerlose T-Shirts, ungebrauchte Shirts der großen Brüder, die (für pubertierende Jungen) peinliche rosa Sterne haben, werden von ihm zu Kleidern umfunktioniert, mit Gürtel und anderen Accessoires aufgepeppt und erbarmungslos zu jeder Wetterlage draußen, Stimmungslage drinnen getragen. Ich habe einmal versucht, die Umkleideaktionen des Kleinsten an einem Tag zu zählen, erfolglos.
Eines Tages besuchten wir des Kleinsten Freund, der das Glück hat, 3 große Schwestern zu haben. Die Schwestern hüten eine große Kiste mit allen möglichen Mädchen-Verkleidungssachen. Der Kleinste und sein Freund haben ein festes Ritual. Nach 3 Sekunden Beschnuppern und Feststellen, dass man sich immer noch mag, bauen sich die beiden Jungs eine Umkleidekabine aus Sofapölstern, holen aus dem schwesterlichen Reservoir die wunderschönsten Prinzessinnenkleider, ziehen sich fast schon professionell aus und mit den glanzvollen Kleidern wieder an, begutachten sich gegenseitig und spielen den Rest des Nachmittags in diesen Kleidern. Prinzessinnenkleider schließen in diesem Fall Räuberspiele, Ritterwettkämpfe und Drachentötungen nicht aus. Der Freund oder besser gesagt seine Schwestern besitzen auch ein Elsa-Eisprinzessinnenkleid. Der Kleinste liebt dieses Kleid und konnte seinen Freund überreden, das Kleid für unbefristete Zeit auszuborgen. Glückstrahlend führte der kleine Mann fortan das Kleid in seinem Kindergartenrucksack mit und wurde von allen Mädchen in der Regenbogen-Gruppe maßlos bewundert. Woraufhin er Bestellungen für Prinzesssinnenkleider aufnahm und mir diese Liste stolz überreichte. Für 15 Mädchen sollte ich also nun glitzernde Kleider besorgen. Das Selbstbewusstsein des kleinen Mannes überstrahlte alle Zweifel der anderen Kinder, er war einfach der, der er war. Ein kleiner Mann in einem Eisprinzessinnenkleid.
Unlängst wollten wir in die Oper zu einem Sitzkissenkonzert gehen. Der Kleinste plante hoffnungsvoll schon tagelang davor seine Garderobe, Schmuck und Schuhwerk. Wir fuhren mit der Straßenbahn, gingen ins Café und besuchten dann das Konzert. Seine beste Freundin an seiner Seite. Der Kleinste trug das grün-silber-glitzernde Eisprinzessinnenkleid, drei Ketten aus Mamas Modeschmuck um den Hals, zwei Armreifen aus meiner Schmuckschatulle an den kleinen Ärmchen. Die High Heels konnte ich ihm gerade noch ausreden. Wir zuckten nicht einmal mit der Wimper.

nachtweich

nachtweich rückt die wahrheit
näher an mein herz.
TreulosGefährten.
LeistungsErbringer.
WasSeinWoller.
nachtweich schmeichelt mir die wahrheit
über meine glühend bleiche wangen.
geruhsam.
wild.
ein echter atemzug.
ein sternenklarer tanz.

Das Netz – Was vom Glückfinden ablenkt

Mirijam Bräuer Blogbeitrag Schreibuniversum_Das was vom Glückfinden ablenkt

Es ist Sonntag. Die familiären Pläne fielen ins blütenstaubgetränkte Wasser. Ein Sohn liegt mit Fieber im Bett. Was tun? Nichts tun? Im Netz surfen?Kindertränen trocknen, nachdenken und den Vögeln lauschen …

In letzter Zeit fühle ich mich überfordert und verfolgt. Es ist das weltweite Netz, das mich an meine Grenzen führt. Ich bin gut vernetzt, nehme bewusst dosiert am menschlichen Austausch über soziale Netzwerke teil und finde mich im World Wide Web gut zurecht. Doch in letzter Zeit fühle ich mich schlicht verfolgt, gar überrollt von den Angeboten, die über diese Netzwerke verbreitet werden.

Gut, es ist interessant, was Menschen aus ihren Leben machen, was sie der Welt da draußen anbieten, welche Wege es gibt, sich selbst und anderen zu begegnen. Würde ich jedoch jeder dieser Einladungen folgen, würde ich gar nicht mehr zu Hause sein und müsste mich wohl klonen, um an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. Das Dilemma ist, dass viele Angebote ja tatsächlich interessant sind. Eigentlich würde ich gerne an fast allen teilnehmen oder mich zumindest dafür interessieren. In meinem Fall werden mir täglich mehrere Reisen an wunderschöne Orte angeboten, an denen man kreativ sein kann, oder seinen Körper stärken kann. Ich erhalte täglich Informationen zu perfekten Coaching und Selbsterfahrungsseminare, Workshops in Naturkosmetik, Kräuterwanderungen, Tanz und stilsicheren Outdoorklamotten. Ich könnte Yoga auf Dachterrassen, in Parks, an Seen, am Meer machen. Ich könnte zu Fincas in Spanien reisen, in die Bretagne oder nach Griechenland. Mein Profil trieb erfolgreich durch die nicht zu ergründenden Datenkanäle des Netzes und wurde, mit undurchsichtigen Algorithmen gespickt, als tausendfache Werbebotschaften wieder ausgespuckt. Ich würde einen 8. Tag in der Woche benötigen, um alle interessant klingenden Events überhaupt genau durchzulesen. Zudem könnte ich in unserer Heimatstadt täglich mehrmals zu brennend interessanten Vorträgen, kulturintensiven Veranstaltungen und packenden Outdooraktivitäten gehen. Ich bräuchte dafür noch einen 9. Tag in der Woche.

Ich gebe zu, das alles stresst mich. Die Konsequenz ist, dass ich fast an keinem dieser Events teilnehme. Ich erweitere meinen Horizont nur selten, lerne selten neue aufregende Menschen kennen, und kann leider auch gar nichts Spannendes erzählen, oder die Veranstaltung gar mit einem erhobenen Daumen gutheißen. Ich fühle mich entwicklungslos, langweilig und energielos, wenn ich die vielen Fotos von den vielen gelungenen Events sehe. Ich stehe einer virtuellen Flut an Entfaltungs-Möglichkeiten gegenüber, begleitet von außerirdischen Leitfiguren, bei denen immer alles gut geht.

Das Tragische ist, dass, je mehr Angebote ich bekommen, umso mehr drehe ich diesem Fundus den Rücken zu und versinke in mir selbst. Wenn dann noch im Weltgeschehen selbsternannt erfolgreiche Menschen ihre Siegeszüge mit erhobenen Sektgläsern posten. Wenn das Privatleben im Netzwerk eine einzige Aneinanderreihung von glücklichen Ereignissen ist. Wenn auf der anderen Seite dem Leben nur noch Dramen oder Siege abgewonnen werden, kann ich nur meinen Rückzug besiegeln. Wenn die Ehrlichkeit, die Aufrichtigkeit und die Authentizität von Menschen durch tausende Trugbilder ersetzt werden, wächst in mir das Gefühl, das einzige menschliche Wesen ohne außerirdische Erfolgsparameter zu sein.

Es besteht jedoch kein Grund zur Sorge um mich. Wie gut, dass es Freunde und Familie gibt. Wie gut, dass es die Liebe gibt. Wie gut, dass es einen Wald, Wiesen und früh am Morgen Rehe gibt. Wie gut, dass das Meer noch immer glitzert, die Wellten tosen und der Wind in ein gespanntes Segel blasen kann. Wie gut, dass der Hund ein weiches Fell hat, Meerschweinchen an meinen Füßen nagen und ich Kindertränen trocknen kann.

Wie gut, dass es tief in mir drinnen die Überzeugung gibt, dass ich allein echt sein muss, um in dieser Welt überleben zu können. Egal welche Zuschreibungen diese Echtheit verkraften muss. Glück und Zufriedenheit lassen sich, und das ist nicht neu, nicht von Konsumaktivitäten langfristig triggern. Ähnlich ist es mit Erfolg. Je mehr Erfolge eingesammelt werden, umso mehr Erfolge will man haben. Diese Erfahrung ist mir nur zu vertraut. Die Suche nach Glück und Zufriedenheit lässt sich auch nicht durch die Teilnahme an Endlosaktivitäten in einer bestimmten Community beschwichtigen. Glück, und damit meine ich nicht die kurzfristigen Highlights, die einen ebenso tief fallen lassen, Glück also, scheint tief in unserem Inneren zu wachsen. Es hat weniger mit dem Außen zu tun, als wir vermuten. Es ist ein inneres Phänomen, das sich mehr aus unkaufbaren, unkonsumierbaren Erfahrungen nährt. Es ist eine entspannte Haltung gegenüber dem, was sich im Leben offenbart. Es ist die Fähigkeit in allem ein Licht zu sehen. Es ist die Freude über das pure Dasein. Es wartet auf Entfaltung einer inneren Kraft, eines einfachen Talents, dem Leben Gutes abzugewinnen.

In welcher Welt würden wir leben, wenn einst jene geehrt werden würden, die am bloßen selbstverständlichen Zwitschern eines Vogels ihr Glück fänden? Wäre dann das glückliche Nichts mehr wert als der große Erfolg?

 

Der Kristall – Der Dunkelheit entkommen

Mirijam Braeuer_Der-Kristall-Der-Dunkelheit-entkommen

Und eines Tages fiel tatsächlich ein Kristall auf den weichen Teppich, den mein Vater von einer seiner Reisen in längst verlorene Länder mitgebracht hatte. Kaum war der Kristall auf dem Boden gelandet, begann er, ohne zu zögern das Sonnenlicht einzusammeln, das still und nachdenklich seitwärts in das Zimmer fiel. Ein Zimmer, dessen Zweck ich mich heute nicht mehr entsinne.

Vielleicht war dieses Zimmer auch nur da, um von oben herab fallende Kristalle zu beherbergen. Dankbar, mit einem Teppich gekleidet zu sein. Endlich dann griff ich nach dem Kristall und er lag warm in meinen Händen. Sollte ich wirklich Ohrringe daraus machen? So lange hatte ich diesen Plan in meinem Herzen, dass ich nun nicht mehr wusste, ob der Plan noch zu mir gehörte. Vor Urzeiten ins hoffende Herz gesperrt, frei gelassen, ungültig? Würden das zwecklose Zimmer, der wunde Teppich, die lautfernen Fenster nicht lautstark ihre Einwände vortragen? Würden es meine stillen Eltern, meine schönen Schwestern und sinnlichen Brüder, die fremden Großeltern bemerken, mich überführen und mir die glanzvollen Ohrringe schließlich brutal aus meinen zarten Ohrläppchen ziehen?

Und das Licht! Würde das gesammelte Licht, das jetzt ein Teil von mir war, mir wieder brutal entrissen? Würde es verschwinden, Licht in Luft auflösend abtauchen, würde es neuerlich zerbrechen, sich in tausend neue Farben aufteilen, fern des Regenbogens? Oder würde es lustvoll auf eine neue, ferne Reise gehen? Wer konnte mir das sagen?

Ich wollte den Kristall nicht verlieren, er war die Frucht von hundert traurigen Stunden Hoffnung. Nein, ich würde mich damit nicht riskant schmücken, ihn dem Leben vorführen, Neider anlocken, diebische, spitzschnabelige Vögel, die mir so gerne die Augen aushackten. Nein, ich würde den Kristall nicht ständig neuem Licht aussetzen. Gierige Augen, fremde Blicke waren längst in mein Herz gedrungen.

Ich würde den Kristall in meine hoffende Hand legen, dort seine Wärme nehmen, mich an seinem Licht nähren, die Farben der Hoffnung kosten. Die Angst ablegen, der Tiefe ein Lachen entlocken, die Gunst des Lichts nur für mich nutzen. Ausschließlich eingesammelt, um meine Dunkelheit zu ertragen.

Kreativ sein bedeutet, dass wir Zugang zu unserer persönlichen schöpferischen Kraft finden. Diese Suche ist der Ausgangspunkt jeder kreativen Reise. Kreativität ist somit immer persönlich und individuell. Kreativität kann überall geschehen, es ist kein Prozess, der einem künstlerischen Anspruch genügen muss. Kreativität löst den Kopf aus festen Bahnen und bricht so manche feste Mauer ein. Kreatives Schreiben verbindet Hand mit Herz. Kreatives Schreiben ordnet das, was ohnehin schon in uns ist, in eine feste und gleichsam freie Form. Kreatives Schreiben löst harte Gedankenstränge auf und ersetzt diese durch lebendige Sprache und herznahe Erkenntnisse.

Mirijam Bräuer

Zur Info Mama – Wasserschlacht am Klassenzimmer

Strahlend kommt der größte der Brüder nach Hause. ‚Mama, heute hat das erste Mal die Frau Direktor mit mir geschimpft.‘ Er zupft ein Schreiben aus der Schultasche, auf dem uns die Schuldirektion mitteilt, dass unser Sohn nach einem bestimmten Unterrichtsgesetz – wortwörtlich in seinem Verhalten auffällig ist. Meine Miene ist wohl bestürzt, denn das große Pubertier beginnt sofort zu erzählen. In einem Satz fasst er das auffällige Verhalten zusammen. ‚Wir haben in der Pause Wasser aus dem Fenster gespritzt, leider ging gerade eine 8-Klasslerin vorbei.‘

Mütterlich froh über das leider, denn sonst entnehme ich dem Blick des jungen Mannes keine Reue, verkneife ich mir ein erleichtertes Lächeln und frage mit ernster Miene: ‚Und dann?‘  ‚Ihr T-Shirt war ein bisschen nass und sie ist petzen gegangen. Und stell dir vor, während der Vokabelwiederholung wurden wir zusammengeschimpft.‘

Und dann bringt er in einem sehr emotionalen Monolog zum Ausdruck wie sehr er sich darüber ärgert, dass sich alle darüber so aufregen, dass nur zwei von vier Jungs erwischt wurden, und dass die Vokabelüberprüfung so peinlich gestört wurde. ‚Und außerdem, Mama, das war ja wirklich eine Kleinigkeit, oder?‘

War es das Mama?

 In meinem Kopf schwirren Gedanken und Gefühle wirr durcheinander. Zum einen muss mein Lausmädchen-Ich lautstark in die Misstöne des Sohnes einstimmen. ‚Was ist schon dabei, wenn man ein bisschen nass wird,‘ flüstert es mir zu. ‚Denk doch mal, was ihr alles in der Schulzeit gemacht habt, da ist ein bisschen Wasser-Spritzen ein Bagatell-Delikt‘. Vor meinem inneren Auge ziehen unsere Klingelstreiche, das Schulschwänzen, die Schmusereien im Fahrradkeller vorüber. Ich erinnere mich daran, dass wir nicht nur einmal die Klassentüre vor der Lehrerin zugesperrt haben und Stolper-Seile aus dem Fenster gespannt haben. Ich erinnere mich aber auch daran, dass der Herr Oberstudienrat Eberle nach einer rotzfrechen Antwort mich am Ohr ziehend nach meinem Nachnamen fragte um meine Eltern zu informieren.

Mein Mutter-Ich fordert jedoch streng Vernunft ein. ‚Das kannst du nicht einfach durchgehen lassen, was soll aus dem Jungen bloß werden, wenn du alles durchgehen lässt? Heutzutage kommt gleich die Fürsorge ins Haus, er muss sich benehmen können und seine Grenzen wahrnehmen lernen. Er muss Konsequenzen seines Verhaltens spüren. Was da alles passieren hätte können! Und was denken denn die anderen über uns?

Zunächst gewinnt das vernünftige Mutter-Ich: ‚Stell dir vor, eine alte Frau wäre da unten gegangen und sie hätte sich das Bein gebrochen!‘, stammle ich beim Mittagstisch. ‚Mama, um diese Zeit gehen keine alten Frauen unter unserem Schulfenster vorbei!‚  Pflichtbewusst und detailgenau schildere ich dem jungen Rebellen also die Geschichte der alten Frau, die unter dem Klassenfenster vorbeigeht, durch die Wasserspritzer so erschrickt, dass sie stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht. Die Frau liegt lange im Krankenhaus und kann sich fortan nicht mehr allein versorgen. Wir müssen für den Schaden aufkommen und tragen ein Leben lang Schuld mit uns. Der größte der Söhne hört aufmerksam zu, schaut mich zwinkernd an und fragt: ‚Krieg ich jetzt I-Pad-Verbot?‚ Ich versinke vor mir selbst im Boden. Wie durchschaubar und unspannend ist unsere Erziehung für den jungen Mann? Er hat uns durchschaut! Hatten wir uns selbst nicht versprochen, ohne zusammenhanglose Strafen auszukommen? Müsste eine tragfähige Konsequenz nicht so aussehen, dass der junge Mann das T-Shirt des Mädchens zum Trocknen aufhängt und sich für sein Verhalten bei einem Eis (mit dem eigenen Taschengeld bezahlt) entschuldigt? Nein, er bekommt kein I-Pad-Verbot. Stattdessen erkläre ich ihm, dass Späße nur lustig sind, wenn niemand zu Schaden kommt. Und obwohl es stimmt, komme ich mir unendlich alt dabei vor.

Mein Mann bringt sich ein: ‚Das schaut nach Arbeitsdienst aus.

So darf der große Sohn am Wochenende einige Ehrenrunden mit der Kehrmaschine in unserer 35 Meter langen Einfahrt fahren. Er macht es fröhlich und ohne Verhandeln.

Am nächsten Tag im Auto Richtung Schule sagt dieser Sohn: ‚Mama, soll ich jetzt überhaupt keinen Blödsinn mehr machen?‚ Am liebsten würde ich ihm antworten: ‚Doch mein Schatz, lass es noch ordentlich krachen, ehe der Ernst des Lebens dich packt und kein Platz mehr für Spiele ist. Pass nur auf, dass niemand zu Schaden kommt.

Diesmal sage ich nichts, zu schnell springt er aus dem Auto hinein in sein Leben. Ich lächle ihm zu Abschied zu.