Albanien mit dem Camper. Offroad von Süd bis Nord.

Die ersten Kilometer einer Reise sind die Träger einer unwirklichen Welt. Noch nicht fort, aber auch noch nicht da, unterwegs, irgendwo, die Richtung muss sich erst formen. Ich kann es noch gar nicht fassen, dieses Endlich-Unterwegs-Sein. In ein Abenteuer, in ein Neues, das wir ganz allein beschreiben dürfen. Fünf Menschen, drei Wochen, quer durch Albanien mit dem Camper. Eng beisammen, ausgeliefert an das Zusammensein. Geteilt wird ohne Zögern, die Freude, das Glück, das Ungünstige, die Not und der Frust. Wie viel Frust müssen wir nun abladen, nach so einem Jahr. Wie viel Glück schaffen wir, anzunehmen, wie viel davon können wir konservieren für einen Herbst, der vielleicht wieder kein Freier, Drachenfliegender sein wird. Der Vorsatz, das Hier und Jetzt zu genießen, wird nun, unter diesen Vorzeichen jedoch eine Verpflichtung. Los gehts. Unser Ziel: Mit dem Camper durch Albanien. Offroad von Süden bis Norden.

Die albanische Riviera

Auf dem Weg nach Albanien: Ein Camper in Ferrara

Aliens sind wir, ein Camper mit Sandblechen und Solarstrom am Dach, auf dem Weg nach Albanien. Parken mitten in Ferraras historischem Zauberwald. Schließt man kurz die Augen, sieht man Bürgerinnen und Bürger über das Kopfsteinpflaster zum Markt flanieren, Eselgespanne Waren ausliefern und Priester aus der Kathedrale mit wehenden Gewändern eilen. Beschaulich bietet sich Ferrara an, als sorglosere, ranzigere, entspanntere Schwester Paduas. Wir bummeln durch die verzweigten Gassen der Altstadt, schlecken Eis und freuen uns über die erste echte Pizza dieses Jahres. Unser winziges, gastfreundliches Hotel erbebt bloß einmal, gegen Mitternacht, als Italien den Fußball-WM-Sieg in die Tasche steckt. „Are you American?“ fragt uns am nächsten Morgen ein sehr fesch zurechtgemachter Polizist. „Italy is best“, der Stolz blinzelt durch seine verspiegelten Gläser, ohne auf unsere Antwort zu warten.

Camper in Ferraras Zauberwald

Der Weg nach Albanien mit dem Camper: übers Meer nach Griechenland

Eine Schifffahrt, die nur eine Schifffahrt ist, erfordert Geduld. Sie fordert eine Art Hingabe, eine Art Wissen darüber, dass die Zeit auch ohne unser hektisches Zutun vergeht. Es gibt nichts zu tun, außer auf die Ankunft zu warten. Man könnte etwas Sinnvolles tun. Man könnte versuchen, der Überfahrt einen Mehrwert zu geben, irgendwie bleibt es aber unmöglich. Ich gebe mich hin, der puren Verschwendung von Zeit.

Grimaldi Lines haben beschlossen, es den Reisenden ein bisschen schwer zu machen. Wir fahren mit dem ältesten, hässlichsten Schiff von Ancona nach Igoumenitsa. Das Virus existiert an Bord nicht, das wir mit gefühlten 500 Jugendlichen aus Slowenien teilen. Es ist eng und es bleibt eng auf der Überfahrt. Und laut. Wir trinken mitgebrachten Sauvignon Blanc, schauen, dass die Buben satt sind und freuen uns auf einen Schlaf, der nicht schon das Aufwachen mit sich trägt. Es ist nämlich egal, wie lange wir schlafen. Das Schiff arbeitet für uns. Wir erträumen uns schon mal den Weg: Albanien mit dem Camper.

Dann kurz vor Mitternacht ein lauter Kracher. Der große 15-Jährige kracht mitsamt dem Stockbett auf das darunterliegende Bett. Darin liegt der kleine Bruder. Eine Handbreit vor dessen Nase kommt das herabfallende Bett zum Stillstand. Der Kleine in Schockstarre, die Erwachsenen schreien, der Kleine flüchtet, das Bett fällt tiefer. Um halb ein Uhr morgens bekommen die Kinder ein Upgrade in eine Außenkabine. Am Morgen, bei erstaunlich gutem Stehcafé das blaue Meer, die Weite, der Horizont. Der verspricht uns, dass alles möglich ist, sogar das Gute. Wir finden es in einer kleinen Bucht zwischen Sivota und Igoumenitsa.

Der Zauber der Eintönigkeit

Jeden Tag dasselbe tun. Jeden Tag eigentlich nichts tun. Die einen sehnen sie herbei, diese Tage, deren Eintönigkeit diesen besonderen Zauber verspricht. In den Tag versinken, die Minuten ziehen lassen, das Gestalten sein lassen, ein- und ausatmen. Vertrauen, dass die Welt sich auch ohne unser Zutun weiterdreht. Und einem Ende zusteuert, das nicht in unseren Händen liegt.

Die anderen haben Angst. Sie fürchten sich vor dem Immerselben, vor der Aussicht auf das Nichts. Das Versinken in das bloße Sein erschüttert ihre Seele, die sich an jedem neuen Aufbruch nährt. Jeden Tag dasselbe zu tun, gleicht einer Verdammnis, in der das Leben ohne Mitwirkung, ohne große Taten und Erlebnisse vorüberzieht und zu einem einzigen Ein- und Ausatmen verkommt.

Ich bin tief davon überzeugt, dass es eben diesem unendlichen Ende völlig egal ist, wie viel wir tun oder wie lange wir nichts tuend an einem einzigen wundervollen Strand liegen.

Das Tor zum Horizont

Endlich in Albanien: Igoumenitsa – Lukovё

Wir passieren die griechisch-albanische Grenze. Erinnerungen an den kalten Krieg befallen mich. Erzählungen von Raubüberfällen an Touristen, eine bedrohlich rot-schwarze Flagge. Der Zöllner winkt uns beiseite. Als er die Buben auf der Rückbank sieht, umspielt ein Lächeln seinen strengen Mund. Unser Weg führt uns durch den überaus wilden Badeort Saranda. Hier geht es lustvoll und protzig zu. Teure Autos werden zur Schaustellung durch die Straßen spazieren geführt, Restaurants, Cafés und Hotels wachsen wild, ohne Plan aus dem Asphalt. Das Meer glitzert blau-weiß, die Frauen tragen hohe Schuhe, ein Schaubild der Eitelkeiten, die Kellner freundlich.

Uns zieht es weiter, bei Lukovё verlassen wir die befestigten Straßen, ziehen mit unserem Camper Spuren durch die sandige Straße, stetig bergab, vor uns das große Blau. Es ist, als würden wir in ein großes Nichts hinabfahren, das erst in den tosenden Wellen endet, die Steine weich und rund gespült.

In Albanien findest du das Tor zum Horizont

Das Tor zum Horizont. Ein kleiner Zeltplatz, eine kleine Bar mit starkem Kaffee und gutem Bier. Die Stellplätze nur einen Steinwurf entfernt vom türkisenen Wasser. Zwei Stunden toben die Buben in den Wellen, essen dazwischen eine halbe Wassermelone, um sich dann wieder von den Meereskobolden an Land spülen, unter Wasser ziehen und vom Weg abtreiben zu lassen. Es ist ein gefährlich vergnüglicher Tanz. Er endet mit Kratzern und Schrammen, die vor lauter Glück nicht wehtun.

Campen, das ist Leben ohne Eile

Ein Leben außerhalb von Zeit und Raum. Ohne W-Lan und Nachrichten. Die Sonne bestimmt den Tag, das Rollen der Wellen begleitet uns bis in die Nacht. Hell in der Sonne, kühl im Schatten, ein Wechselspiel für den Körper. Frei von Pflicht und Funktion wieder das Spielen lernen: Das Reiten auf den Wellen, dem Knirschen der Steine unter Wasser zuhören, das Hoch und Nieder im Wasser. Stundenlang, zeitvergessen, selbstvergessen, weit weg das Müssen und Eilen.

Rafting und heiße Quellen in Albanien: mit dem Camper von Lukovё nach Permet

Das Meer fordert zum Abschied ein Opfer. Wild und tosend verschlingt es gierig drei Taucherbrillen, zieht sie förmlich hinein in das ewige Wogen. Die Brillen verschwinden in seinem Schlund. Dann dürfen wir gehen. Es zieht uns ins Innere Albaniens, erst bei der Abfahrt entscheiden wir uns, Richtung Permet zu fahren. Meistens sind die ungeplanten Dinge im Leben auch die besonderen Wege. Wir hatten den Fluss Vjosa nicht am Schirm, dann rauscht er zu unseren Füßen.

Rafting am Fluss Vjosa

Raften am Vjosa

Unser Guide studiert in Boston, allerdings war er wegen Corona noch nie in Boston und hilft beim Raftingclub aus. Seine Großeltern waren griechische Bauern, die mehrere hundert Maultiere besaßen und die Handelswege im griechisch-albanischen Grenzgebiet bedienten. Der Vjosa führt türkises Wasser und hat sich im Laufe der Jahrtausende einen eindrucksvollen Weg durch das unwegsame Gelände gebahnt. Die Ausläufer der Unwetter über Mitteleuropa treffen auch uns, so bietet uns der Himmel ein verrücktes Wechselspiel aus Licht und Dunkel, während wir uns in nasse, klebrige Neoprenanzüge quetschen.

Der Fluss führt um diese Jahreszeit schon wenig Wasser, für Rafting-Anfänger wie mich, ideale Bedingungen. Ein kleines Abenteuer. Immer wieder wird der Fluss wild und brodelnd und wir kämpfen uns mithilfe der Kommandos des Bootsführers durch den Fluss. Wir fühlen uns als Team. Dann wieder gleiten wir fast lautlos zwischen bizarren Felsformationen, die Zeit scheint kurz auszusetzen, bis uns die nächste Stromschnelle aus unseren Tagträumen aufweckt. Hin und wieder sehen wir Müllberge an den Abhängen kleben, Müll der einfach in den Fluss gekippt wurde. Unser Bootsmann erzählt uns, dass er dreimal im Jahr mit seinen Kumpels den Fluss und seine Böschungen reinigt. Den Alten sei es egal.

Vergangenheit und Zukunft berühren sich in Albanien

Wir kehren zur Stärkung ins Café „Schatz“ im Zentrum Permets ein. Die Stadt war einst Zentrum des faschistischen Widerstands. Heute spürt man eine subtile kriegerische Atmosphäre, die durch den steil hinaufragenden Stadtfelsen irgendwie bestätigt wird. Herr „Schatz“ hat drei Jahre in Berlin gearbeitet, das erzählt er uns mit Händen und Füßen, denn Deutsch kann er nicht. Er ist ein stolzer Kaffeehausbesitzer, man sieht es ihm an. Mein Mann liebäugelt mit der blitzenden Espressomaschine. Wir bekommen einen Cappuccino aus der Tüte, den Herr Schatz eigens vom Nachbarkaffee geholt hat. Erst nach viel Verhandeln und Deuten bekommen wir noch einen Espresso aus der Maschine.

Der Stadtfelsen von Permet

Eine Camping-Nacht bei den heißen Quellen

Der Regen hört auf, es zieht uns in die Einsamkeit. Abseits der heißen Quellen in der Nähe von Permet finden wir ein Plätzchen mit Blick auf den warmen Fluss. Die Kinder spielen stundenlang unten im Flussbett, springen ins Schwefelwasser und bringen seinen Geruch mit in den Schlaf. Er hilft uns, die bösen Geister der einsamen Nächte zu vertreiben.

Albanien, das ist offroad. Permet – Sevran – Ozum Canyon – Berat

52 Kilometer offroad. Kurven, Schlaglöcher, Aussichten, die den Atem nehmen. Schafft das mister fox? Ja, er schafft es. In Sevran kehren wir ein. Wir nennen sie Mama Albanese. Sie hat ein Café am Straßenrand. Es gibt köstliche Vorspeisen, die sie aus dem Gemüse ihres Gartens zaubert. Die Bienen, die den Honig zu den selbstgemachten Krapfen machen, haben noch nie ein Hochhaus gesehen. Die Milch im türkischen Kaffee ist cremig. Die Enkelkinder spielen unten in der Wiese. Um uns nur Gärten, blühende Natur und Freundlichkeit. Eigentlich war diese Einkehr schon die gesamte Reise wert.

Hier ging es dann bald nicht mehr weiter …
Eindrucksvolle Felsformationen und Abgründe …

Die weiße Stadt Albaniens: Berat

Der Name der Stadt ist wie eine Verheißung, ein Ruf der Ewigkeit. Die weiße Stadt, seit mehr als 2000 Jahren bewohnt. Hier spürt man den Orient, hier lebt man Europa. Es ist wohl die Kombination aus Orient und Okzident, die die Stadt so besonders macht. Sie ist jung und alt zugleich, wird aus der Strömung des Flusses Ozum gespeist, lockt mit wildem albanischen Leben, Straßenverkehr, versteckten Guesthouses und Restaurants mit Dachterrassen. Wir stromern durch die Neustadt, passieren Fleischer, Gemüsehändler, Bäckerläden. In den belebten Cafés werden wir mit Wohlwollen und Freundlichkeit von Alten und Jungen genährt.

Berat, die weiße Stadt

Unser Hotel gleicht einem alten Schloss, nachgebaut mit billigen Materialien. Der Besitzer hat sein Geld in England gemacht, seine drei Töchter sprechen fließend Englisch. Sie bringen uns ein Frühstück für Könige. Von Berat zieht es uns schließlich zurück ans Meer. Die Buben brauchen Wasser und Wind. Ein einsamer Campingplatz an der Lagune im Nirgendwo. Ein langer Sandstrand, der abseits den Müllbergen aus dem Meer Unterschlupf gibt. Ein Kitewind, der dann doch keiner wird. Eine Brücke, von der aus perfekte Saltos ins Meer gemacht werden.

Der perfekte Salto

Nach drei Tagen Stillstand werden wir unruhig. Weiter zieht es uns. Das Neue, das Abenteuer ruft uns. Warum sind wir nur so hungrig nach dem Leben? Verliebt in dieses Land. Wollen wir es kreuz und quer für uns erobern.

Orient in Albanien: Der Camper rollt von Kavaje nach Burrel bis Peshkopi

In Peshkopi küsst der Orient den Okzident. Der Hoteldirektor räumt seinen Parkplatz für uns. Wir haben den Buben ein sauberes Bett und eine warme Dusche versprochen. Wir wohnen im besten Haus am Platz. Der abendliche Xhiro findet in der nahen Fußgängerzone unter den alten Linden statt. Es ist ein tägliches Spiel aus Begehrlichkeiten, Eitelkeiten und der Sehnsucht nach Geselligkeit. Junge Männer, in 4-er oder 5-er-Gruppen, perfekt rasiert gepflegt gekleidet, promenieren stundenlang auf und ab, alte Männer treffen sich bei den Bänken, ein paar junge Mädchen zeigen sich in modernen Klamotten den potentiellen Werbern. Frauen mit traditionellen Kleidern und Kopftüchern führen Kinderwägen spazieren und besprechen flüsternd Persönliches. In den Cafés sitzen fast nur Männer, fast fühle ich mich exotisch, beobachtet, wage es lange nicht, eines zu betreten.

Diese Autos halten 50 Jahre.

Der Basar von Peshkopi – Ein Händeschütteln mit Albanien

Am folgenden Tag erkunden wir die Einkaufsstraße, schlendern an Gemüsehändlern, Hallal-Fleischereien und Geschäften für Haushaltswaren vorbei. Wir erobern unter viel Händeschütteln und Schulterklopfen den unterirdischen Bazar. Ein Mann, in einer Art Minibaumarkt arbeitet, erzählt uns in perfektem Deutsch: „Ich habe Mathematik studiert. Die einzige Option Geld zu verdienen, ist für mich, in Deutschland Schwarzarbeit zu machen.“ Während wir miteinander sprechen, entsteht um uns eine kleine Traube von Menschen. Es ist fast so, als wollten sie unser blondes Haar berühren. Die einzigen Touristen in einer Stadt zu sein, verleiht einem die Aura der Abenteurer.

Prüfung für mutige Camper

Haben wir den Glauben an das Gute im Menschen verloren? Wir liegen im Zelt, die Kinder gut verstaut im Camper. Über uns, im Netz, der Pfefferspray und das Messer. Vor meinem inneren Auge spielen verschiedene Gewaltszenen ein verrücktes Spiel. Sehe uns Fünf gehängt auf einem Baum. Der Vollmond leuchtet das Zelt aus. Unsere Schatten fallen lange vor uns, als wir noch ein letztes Mal nachsehen, ob wir alleine sind. Was ist bloß los mit uns?

Das sind die Brücken in Albanien
Offroad we go …

Offroad, Angst und gute Taten: Mit dem Camper auf Schotter Richtung Kukes

Unsere lange Tagesetappe führt uns über unbefestigte Wege von Peshkopi Richtung Kukes. Kurz bevor die Schotterpiste wieder zu einer befestigten Straße stößt, schlagen wir an einem Fluss unser Nachlager auf. Etwas abseits der Straße. Die Buben sind mit der Eroberung des Flussbettes beschäftigt, große Runde Steine grollen darin. Wir trinken Bier und Wein und braten Würstchen.

Wunderbare Flusslandschaften

Wir sitzen beim Abendessen, als ein fremder Mann, etwa 40 Jahre alt, gekleidet mit einem Jogging-Anzug mit Mercedes Stern-Aufdruck, aus dem Nichts auftaucht. Er grüßt, setzt sich 5 Meter von unserem Lager entfernt auf den Boden und raucht wortlos eine Zigarette. Wir sind sprachlos, überlegen, entschließen uns für Gastfreundschaft. In meinem brüchigen Albanisch erkläre ich ihm, dass es sich um Wein handelt. Er nimmt an, trinkt, raucht, schweigt. Nach einigen weiteren Minuten weiteren unbehaglichen Schweigens, sammle ich meine albanischen Wörter aus dem Hinterkopf und frage ihn, wo sein Dorf, sein Haus, seine Familie sei. Dann bricht das Eis schneller als es uns lieb ist.

Albanien: Vertrauen wir dir?

Er sitzt an unserem Tisch, zeigt uns Fotos, Kinder, Kühe, Acker, Bienenstöcke. Das brüchige Albanisch und der Google Translator helfen uns, bis wir das Gefühl haben, dass es eigentlich genug ist. Mein Mann begleitet ihn nach Hause, lernt Kinder und Frau kennen. Trinkt Raki und Kaffee. Er muss morgen wiederkommen, wenn wir weiterreisen. Dann quälen uns nächtlichen Phantasien, die uns Gefahr vorheucheln, wo wir nur Gastfreundschaft erfahren haben. Zugegeben, es war seltsam. Aber deshalb gleich Gefahr riechen?

Der albanische Bauer hat vier Kinder, eines davon ist behindert. Es wird von den Geschwistern betreut. Der Gedanke an diese Kinder durchquert meinen sonst so friedlichen Morgen. Der Bauer ist nicht bitterarm, er besitzt Tiere und Land. Trotzdem wird er sich Medikamente oder einen Rollstuhl nie leisten können. Kann er die Buntstifte für die Kinder, das Öl für den Traktor zahlen? Beim Abschied hat er Tränen in den Augen. Eine feste Umarmung. Ein Hundert Euro Schein liegt in seinen Händen. Der nächste Monat wird sicher leichter. Und trotzdem fühlen wir uns nicht leichter.

Der Camper hat Pause: Flussfahrt im Norden Albaniens: Fierza – Koman – Skodra

Er hat genug von den Schotterpisten. Er, der anfangs nur Schotter unter den Rädern haben wollte. Eine erholsame Fahrt steht uns bevor. Wir fahren mit der kleinen Flussfähre von Fierza nach Koman. Fast drei Stunden verbringen wir auf dem kleinen Schiff, das uns gemächlich durch eine fjordartige Landschaft Richtung Koman bringt. Wir stellen die Campingstühle auf, kommen mit Mitreisenden ins Gespräch. Fotografieren die türkise-grünen Lichtspiele, die Sonne und Wasser uns zeigen. Es ist eine beschauliche Fahrt, die uns nach den abenteuerlichen Tagen im Hinterland ein wenig Ruhe verspricht. Fast unerträglich fühlt sich die holprige Straße in Koman an, das leise Gleiten über den Fluss hat uns in einen wunderbar beruhigten Zustand gebracht.

Mit der Flussfähre durch die Fjorde Albaniens.

Nun müssen wir schon rechnen. Wie viele Tage bleiben uns noch? Wie lange können wir an welchen Orten noch bleiben? Wie viele Stationen brauchen wir für die Rückfahrt von Nord-Albanien bis Österreich. Quälend empfinden wir diese Rechnereien. Der Skodra-See bleibt uns für die nächste Albanienreise. Wir beschließen, die wenigen Tage, die uns bleiben, in Montenegro zum Kitesurfen und für die gemütliche Heimreise aufzuteilen.

Auch Camper weinen Abschiedstränen

Wir stehen an der albanischen-montenegrinischen Grenze. Leise rollt eine Träne über meine Wange. Abschiede waren noch nie meine Sache. Ein Land, das sich tief in mein Herz gebrannt hat, zu verlassen, verlangt mir nun einiges an Schmerzen ab. Es ist diese wunderbare unberührte Natur, die Freundlichkeit der Menschen, das großartige Blau der Riviera, das mich zu einem Fan Albaniens gemacht hat. Die Zöllner winken uns weiter, wie gerne hätte ich ihnen gesagt, dass ich eigentlich gar nicht gehen will.

 

Lustwandeln in Grados Gassen

Oder: Eine Ode an den Sommer

Ein Blick aufs Meer genügt um zu wissen, es ist Sommer.

Auf der Fahrt nach Grado höre ich ein Wort, das mich nicht mehr loslässt: lustwandeln. Während das Kanaltal mir hellblau zuwinkt, schwingt der Klang dieses Wortes durch meine Seele. Lustwandeln in Grados Gassen. Was für ein schönes Wort. Wann habe ich das zuletzt gemacht: Frei von Sinn, irgendwo, wo es schön ist, ziellos umhergehen. Mit Freude wohlbemerkt, mit Wonne und Geduld für die Langsamkeit. Werfe ich im Vorbeifahren nur einen kurzen Blick auf meinen Alltag, so stelle ich fest, dass er sehr oft lustwandelfrei ist. Eile, Ungeduld, Termine, Sinnhaftigkeit, Ernsthaftigkeit, Zielstrebigkeit trüben die heitere Aussicht auf die Gemächlichkeit, die das Lustwandeln mit sich bringt. Aber jetzt im Sommer, geht das ja vielleicht ein bisschen einfacher, leichter, vergnüglicher. Vor allem auf Kurzurlaub in Grado. Dort könnte man das Lustwandeln ja ein wenig üben.

Es ist voll, aber das ist uns egal.

In Grado zelebriert man den Sommer.

Denn in Grado darf der Sommer noch so sein, wie er es sich einst ausgedacht hat: Langsam, voller Wonne, mit schönen Kleidern, der Sonne entgegen. Faul, fröhlich und für unseren zeitgeistigen Geschmack des Vorwärts- und Rückwärtsdenkens fast ein wenig zu sehr im Augenblick verankert. Ein Sommer in Grado erlaubt es uns, uns sorgfältig für das Abendessen zu kleiden.

Er gestattet uns das Flanieren, Ambulieren, Lustwandeln, Umherstreunen, Bummeln, Trödeln und Gustieren.

Es ist ein Sommer, der gerne aushält, dass wir unsere Füße zweckfrei in den warmen Sand bohren. Kinder bauen tausende Sandburgen, die alten Gradeser sammeln geduldig im Morgengrauen Krebse und Krabben, die bunten, viel zu teuren Liegestühle umarmen uns Sonnendurstige. Es ist voll, und es ist uns egal, denn wir alle feiern den Sommer. Mit Leichtigkeit sehen wir darüber hinweg.

Die Dame, die den Wetterbericht ansagt, spricht den schwer auf meinen Schultern lastenden Satz aus. Der Sommer verabschiedet sich. Was für große Worte. Ein Sommer, der einfach sagt, dass er jetzt geht. Einer, der verkündet, dass es ihm reicht, und uns gar nicht fragt, ob wir denn damit einverstanden sind. Ich halte noch am Sommer fest. Er trägt so etwas Großartiges in sich. Sommer, das ist ein wunderschönes Kleid, das ich mir anziehe. Alle Strenge fällt von mir ab, alles wird weich: Sehnsucht nach dem guten Leben. Die letzten Winterkrusten fallen ab. Das große Spektakel aus Hitze, Gelassenheit, Freiheit und Überschwang möge nie zu Ende gehen.

Schön wärs.

Fürs Campen bestimmt: mister fox in Aufbruchsstimmung

Unser mister fox auf dem „Kamenjak“

Vanlife auf der Insel Rab: wilde Winde und überraschende Landschaften

Den kalten Frühling und die raue Zeit der letzten Monate fristete unser mister fox ein trauriges Dasein. Vanlife war nicht drin. Er durfte uns zum Schifahren bringen, um danach gleich wieder in der Garage zu stehen. Er durfte leblose Möbel und Holzlatten transportieren. Dann endlich, Ende Mai verbreitet sich das Gefühl des Aufbruchs. Campen und sein Duft liegen in der Luft.

mister fox steht in der Einfahrt, er wird geputzt, gepackt. Es wird von der Ferne gesprochen. Gewohnt, loszufahren, einfach so. Jetzt grübelnd über den Websites der Autofahrerclubs und Außenämter. Wohin darf man fahren, wohin nicht, welche Regeln gelten dort, was brauche ich da für die Einreise, was brauche ich dann aber für die Rückreise? Impfzertifikate, Einreisegenehmigungen, Ausreiseformulare, Antikörpertest. Begriffe und Bedeutungen, die uns vor wenigen Monaten in Europa nichts bedeuteten. Nun bedeuten sie die Welt. Die kleine Welt der Nachbarländer, die einst so normal und erschließbar war, verwandelt sich zum Sehnsuchtsort, zum Ablageort aller unserer verpassten Möglichkeiten, zur Traumfabrik der verschlissenen Ideen, wissen wir ja nicht, ob die alten Träume noch etwas taugen.

Dann endlich ist alles bereit. Geimpfte Großeltern, getestete Kinder, erzogene Haustiere. Sie alle bleiben zu Hause. Reisetaugliche Eltern, mister fox, der in der Einfahrt brummt. Das Tor geht auf. Wir steigen ein in unsere kleine Welt. Mit dem Schritt in den Van erschließt sich ein ganzes Universum. Denn wir reisen wieder. Vier Tage Vanlife liegen vor uns. Vier Tage fern von Homeoffice, Homeschooling. Weit weg von dem elenden Gefühl, dass alles immer nur noch mehr vom selben ist. Dankbarkeit im Herzen, dass alles so gut lief, für uns und unsere Lieben. Aber doch, kein Tag weiter so. Raus, weg, neu, anders, Weite, Ferne. Das sind die Prämissen, die uns treiben. Wollen uns tragen lassen von den Eindrücken, dem Neuen, das uns auf Wegen begegnet, die wir noch nie gegangen oder gefahren sind. Unser Ziel ist die kroatische Insel Rab. Wir haben diese Insel ausgewählt, weil wir sie nicht kennen und weil sie laut Wetterradar genau dort liegt, wo schon ein bisschen Sommer, ein bisschen Milde sein sollte.

Mountainbikes und Wanderschuhe, ein voller Kühlschrank und zwei Flaschen Wein – so geht Vanlife mit mister fox.

Der Grenzposten zwischen Österreich und Slowenien winkt uns durch. An der slowenisch-kroatischen Grenze werden unsere Pässe gescannt, ich bin nervös, obwohl ich weiß, dass wir alles richtig machen. Was hat diese Zeit aus uns gemacht? Angst vor Kontrollen? Angst, Regeln zu missachten? Der Geist meiner Rebellion jedenfalls versteckt sich am Grenzübergang unter den Sitzen und macht fest die Augen zu. Es passiert nichts. Wir drängen Richtung Süden und verlassen endlich schon bei Karlovac die Autobahn. Auf der Bundesstraße 23 verlassen wir bald die Stadt des berühmten Bieres und gelangen in eine hügelige, grüne Flusslandschaft. Unser Frühstücksbauch knurrt, der Hunger entdeckt einen großartigen Jausenplatz am Fluss inmitten von hohem Gras und verwitterten Holzbänken. Wir sind allein, das erste Käsebrot auf Reisen ist das beste. Die kurvenreiche Straße versetzt den Fahrer und mister fox in Höchststimmung, immer wieder überholen uns Motorräder. Neugierig schauen wir auf die Kennzeichen. Meist sind es ungarische Motorradgruppen, die unseren behäbigen Mister Fox grüßend überholen. Alle treffen sich wieder in Brinje. Wir lesen, dass die Stadt schon in der Antike eine bedeutende Siedlung aufweisen konnte. Beeindruckt, selig, einfach weil wir unterwegs sind, kochen wir Kaffee. Ein Aussichtspunkt über die fruchtbare Ebene, ein letzter weiter Blick, ehe die enge, dunkelgrüne, felsige Landschaft uns das Meer zuerst vorenthält, dann aber doch mit höchster Großzügigkeit preisgibt.

Während mister fox der kurvenreichen Küstenstraße folgt, bemühe ich mich, so viele Blicke auf das Meer zu ergattern, wie es nur möglich ist. Als wäre diese Stunde Fahrt meine einzige und letzte Möglichkeit, das Weite, das Blaue, das Unendliche zu sehen.

Das Meer flüstert mir zu.

„Beruhige dich“, flüstert es mir zu, als wir dann doch einige Minuten direkt am Wasser entlangfahren. „Ich laufe dir nicht weg.“

Wir wissen, dass die Fähre von Stinica nach Rab einmal pro Stunde fährt, das nimmt uns den Stress, denn: eine Stunde warten und aufs Meer blicken, was kann Schlimmeres passieren? Der Ticketschalter öffnet exakt 30 Minuten vor Abfahrt. Das Ankommen der Fähre verursacht in meinem Inneren ein kleines Erdbeben. Ich sehe zu, wie das Schiff langsam, aber bestimmt auf den Hafen zukommt, ich lausche dem Motor, der von Wellen und Winden erzählt, ich sehe das große Tor, das sich langsam herabsenkt, einladend, wohlwollend. Ein Versprechen liegt in dieser Ankunft. Es ist die Verheißung der Fremde. Drei Songs mit dem Sound der Achtziger gehen sich aus, wir bleiben bei mister fox, niemand steigt aus. Dann öffnet sich das Tor ins Neue. Wir verlassen das freundliche Meerestier, eine Mondlandschaft erstreckt sich vor uns. Dieser Teil der Insel ist eine kahle, steinige, felsige Welt. Das Blau des Meeres hat vermutlich den größtmöglichen Kontrast einfordert: fast weißer Fels, von der Witterung flach geschliffen. Wir wissen, dass auf der Insel auch uralte Eichenwälder, knorrige Olivenhaine, undurchdringliche Macchia zu finden ist.

Mondlandschaften auf Erden.

Gerade aber fühlen wir uns, als wären wir mit mister fox zum Campen auf dem Mond gelandet.

Wild campen ist in Kroatien nicht ratsam. Sämtliche Plätze, Aussichtspunkte, wilde Strände werden von der Polizei kontrolliert. Darum suchen wir in Kroatien immer nach kleinen, naturnahen, freundlichen Campingplätzen. Ohne Pool, ohne Wasserrutschen, ohne Animationsprogramm. Auf Rab ist dies der Campingplatz „Wodenca“. Er liegt am äußersten Rand der langgezogenen Ortschaft Barbat. Zwanzig Stellplätze in einem Olivenhain, eine saubere Toilettanlage und ein kleiner Strand vor dem Tor. Genau so wollten wir es. Der Platz ist fast leer, wir zählen 6 Camper, allesamt Vans und kleine Wohnmobile. Die Straße zum Campingplatz ist sehr schmal, eine natürliche Auslese.

Noch kann ich es nicht fassen, dass wir am Meer sind. Ungläubig halte ich meine Nase in den Wind. Der bläst stark und unerbittlich. Ein paar Kinder spielen am Strand, Möwen gesellen sich zu ihnen, Eltern versorgen mit Obst und Keksen. Wir müssen nichts tun. Nur schauen, spüren, atmen. Ungläubig noch immer, für niemanden zuständig zu sein, ist der Kaffee schnell gebrüht, der Inhaber des Campingplatzes bringt uns Schnaps und holt unsere Pässe. Entschleunigt, schon jetzt. Die Reise hätte sich schon für diesen Moment gelohnt. Der erste Spaziergang am Meer bricht das monatelange Sehnen in ein großes Glücksgefühl entzwei. Der Wind ist fast ein Sturm und bläst uns entlang der scheinbar neu gebauten Promenade, die bis in die Hauptstadt führt. Links beständig und treu das wellige, unschlüssig grau-blaue Meer, rechts Appartements, geschlossene Restaurants und Boote. Wohin unsere Augen schauen, gibt es auf Rab Boote. Boote im Wasser, Boote in Gärten, Boote auf Abstellplätzen, Boote in Werften.

Boote vor der Hauptstadt Rab.

Sie alle scheinen auf den großen Tag zu warten, an dem der Wind nur mehr leise singt, das Meer hellblau zu einer Fahrt einlädt, die Sonne sanft den Kuss zur Abfahrt gibt. Noch ist es sehr still auf der Insel.

Der tiefe, zufriedene Schlaf packt uns. Am Morgen Frühstück für zwei, Musik nur für uns. Kein Jammern, Zetern und Zanken der Brut. Aufbruchsstimmung. Zwei Räder, ein Rucksack. Der Himmel ist grau, der Wind ist steif. Hauben, Windjacken und lange Hosen. Macht uns nichts, der Entdeckergeist ist erwacht. Wir wollen die Insel sehen, spüren und verstehen. Mit den Rädern fahren wir mit Rückenwind entlang des Meeres die zwölf Kilometer bis zur Hauptstadt. Rab ist berühmt für seine alten Kirchtürme und seine malerische Lage. Der graue Himmel, die Regentropfen verhüllen das Städtchen mit einem zauberhaft verschlafenen Mantel, wir laufen durch alle Gassen, staunen über die Baukunst, die teilweise bis in die Antike zurückgeht. Wandern auf Wegen, auf denen schon im Mittelalter wohlhabende Familien ihre Leben in die Hand der Insel gelegt haben.

Immer wieder blitzt die Sonne hervor, wir trinken unter der Markise eines Cafés Tee, staunen über die Leere, mit der die Insel uns aufwartet. An den Kauf von Souvenirs ist nicht zu denken, denn es hat kein einziges Souvenirgeschäft offen. Wir stellen uns dieselben Orte im August vor und sind froh, den kalten Corona-Frühling als Begleiter zu haben.

Auf den Rädern fahren wir weiter bis Kampor. Von dort aus erstreckt sich die grüne Halbinsel mit dem Namen Kalifront. Dichte Pinie- und Eichenwälder verbergen den freien Blick aufs Meer. Vom Wind und Regen geplagt, breitet sich in diesen Wäldern das Gefühl von tausenden kleinen Weltuntergängen aus. Kein Baum ist gerade. Jeder Ast folgt dem Wind. Jeder Zweig richtet sich zur Sonne aus. Wir radeln auf den gerölligen Wegen bis zu den exponiertesten Stellen, dort überlässt der Wald dem Meer kleine, verwunschene Übergänge. Die winzigen Strände und Buchten, die jetzt menschenleer im Sturm vor dem Wellenmeer und Gischt daliegen, machen uns sprachlos. Dem Meer sind wir egal. Klein und unbedeutend halten wir uns an den letzten windschiefen Bäumen fest, um nicht davongeblasen zu werden.

Ein launiges Kaffee am Meer kurz vor der Hauptstadt.

Die Träume aber halten wir fest, sie schwingen um uns wie seidige geisterhafte Fäden. Immer hier stehen bleiben, immer dem Wind den Kopf bieten.

Vanlife pur am Abend. Wir kochen, trinken Wein und essen draußen, lesen, die Augen fallen zu. Windstill ist die Nacht im Van. Die Träume geistern ihre Wege. Bereit für den nächsten Tag. mister fox möchte bewegt werden. Er will steinige, felsige Wege fahren, steil und unwegsam. Wir folgen seinem Ruf und fahren mit ihm hinauf auf den höchsten Punkt der Insel. Der Weg ist schmal, Kurve folgt Kurve unter uns das Meer, wir fahren in eine andere Welt. Denn dort oben, auf dem Kamenjak, der nur 408 Meter über dem Meer hinausragt, ist die Welt wieder eine andere. Der Wind hat dort oben aus den Felsen Kunstwerke geblasen. Wir gehen durch die Mondlandschaft, der Wind bläst so heftig, dass ich nichts mehr höre, nur das Heulen der Natur, das Flattern der Kapuze. Ein paar Schafe grasen hier oben das karge Grün, Mister Fox steht zufrieden am Straßenrand. Ja, so hat er es sich vorgestellt.

In den letzten Jahren wurde von Touristikern auf der Insel unzählige Radwege erschlossen und markiert. Wir möchten mit den Rädern auf die Hochebene Fruga. Der Weg dorthin ist eine der archäologischen Radrouten, die entlang von alten Befestigungen und Brücken führt. Es sind nur etwa 100 Höhenmeter, die wir auf dem schmalen Trail hochfahren. Mit ein wenig Bikeerfahrung eine sehr freudige Route. Oben geht es auf und ab, mal Geröll, mal Waldboden. Schafe zu beiden Seiten, bis sich vor unseren Augen das Meer entfaltet.

Das Schöne an Rab ist, dass das Meer immer greifbar bleibt.

Türme, Kirchen, Mauern, Winde – das ist Rab.

Hinab geht es entlang der Steilküste fast bis in den Ort Lopar. Wir jedoch kehren um, zurück zu Mister Fox, dem wir nun noch eine echte Offroadroute auf dem Landvorsprung Sorinj gönnen, für Mutige: An der Mülldeponie und unzähligen verwitterten Verbotsschildern vorbei, führt ein schmaler Weg zur Kirche Sankt Nicolas. Aber eben nicht ganz: Der Weg endet an einer Mauer, von der aus man nur noch zu Fuß oder mit dem Rad weiterkommen kann. Belohnt werden wir mit absoluter Einsamkeit, Windstille, unberührten Wäldern und einem großen Ast, der sich schließlich als riesige Schlange entpuppt.

Der letzte Tag schenkt uns Windstille, einen Spaziergang am wilden Strand von Barbat und ein kleines Van-Wander-Abenteuer. Wir folgen oberhalb von Barbat einem unbefestigten Stichweg, der an unzähligen karg anmutenden Schafweiden vorbeiführt. An einer Weggabelung stellen wir mister fox ab und laufen zu Fuß weiter. Ein alter Wanderweg soll hier oben bis zur anderen Seite der Küste führen. Wir finden tatsächlich Wegweiser und folgen den rot-weißen Markierungen, die an den Steinen aufgemalt sind, in eine immer bizarrer werdende Landschaft. Diese Seite der Insel gleicht einer Befestigungsanlage, die von Menschenhand wohl zum Schutz vor der Witterung gebaut wurde. Menschenhohe Steinmauern säumen ganze Hänge, zwischen denen gerade Platz für zwei Wanderer ist. Wir sehen Schafe und Ziegen, die in den Steinlabyrinthen umherirren, sehen verwitterte Stacheldrähte und Hütten. Oben, auf der Hochebene Pantunja bietet sich uns ein beeindruckender Blick über den Velebit-Kanal. Wir verlassen den befestigten Weg und steigen etwas höher auf das Plateau. Klein und unbedeutend fühlen wir uns wieder angesichts der Elemente Wind und Wasser. Jeder Schritt muss hier sitzen. Wir merken: schauen und gehen klappt hier nicht.

Nun endlich zeigt sich die Sonne, wir haben noch eine Stunde, ehe die Fähre in Misnjak Richtung Stinica am Festland ablegt. Ein schneller Kaffee am Platz in der Hauptstadt geht sich aus, wir schauen in die Sonne und würden nun doch noch gerne bleiben. Weiter auf den unberührten Wegen und Plateaus unseren eigenen Träumen nachjagen. Vielleicht auch ein wenig ruhen. Vielleicht dem Meer einen Fisch abringen.

  1. – 24.5.2021 Graz – Rab / mister fox, Mirijam & Jan

Eltern auf dem Prüfstand

Einige gute Gründe, sich selbst vom Umwelt-Thron zu stürzen

Rund um unseren Tisch sitzen 3 aufgeweckte junge Männer, die mit wachen Augen durch die Welt gehen. Sie beobachten nicht nur ihre Welt da draußen genau, urteilen über Lehrer, Politikerinnen und You Tube-Stars. Sie schauen auch uns Eltern genauestens auf die Finger. Jeder Fehler unsererseits fällt uns gnadenlos auf den Kopf. Sportunfälle in der Midlife-Crisis werden als unnötige Übertreibung männlicher Kräfte interpretiert. Bühnenpräsenz Mitte Vierzig wird als Wunsch nach Anerkennung entlarvt. Bei schwelenden Konflikten unter den Eltern wird zügig Öl ins Feuer gegossen, damit es dann wenigstens ordentlich kracht.

Derzeit stehen wir Eltern auf dem Umweltprüfstand.

Das ist nicht gerade angenehm. Angenehmer ist es ehrlich gesagt, wenn man sich selbst prüft. Denn dann kann man da und dort ein Auge zudrücken, wenn das eigene Verhalten nicht den persönlichen Vorstellungen seiner selbst entspricht. Viel schlimmer ist es, wenn man von seinen pubertierenden Kindern unter Beobachtung steht. Viel schlimmer ist es noch, wenn zusätzlich ein 6-Jähriger, der die Grenzen der unmittelbaren Gefühlsäußerung noch fließend interpretiert und zu spontanen Unmutsäußerungen über das elterliche Verhalten neigt.

Hier sind unsere Top-Themen, die im Raum stehen: Mobilität, Nahrung und Einkaufsgewohnheiten. Was Mobilität angeht, müssen wir gestehen, verlangen wir unseren Kindern einiges ab. Während in unserem Wohnbezirk der Großteil der Kinder mit Teslas, BMWs und anderen großen Ungetümen zum Bus oder gar vor das Schultor gebracht werden, haben wir unsere Kinder verpflichtet, mit dem Rad zu fahren. Es gibt nur wenige gute Gründe, nicht mit dem Rad zu fahren: Die sind: Krankheit, zu schwere Schultaschen, Starkregenfall. Bei allen anderen Gründen schütteln wir einstimmig den Kopf. Die Buben haben es akzeptiert. Dass es ihnen gefällt, wage ich nicht zu behaupten. Nun verlassen aber auch wir Erwachsene das Haus.

Ehrlich gesagt, haben wir viel mehr Gründe, nicht mit dem Rad zu fahren.

Dafür schäme ich mich. Der oberste aller Gründe: „Es geht sich zeitlich nicht aus.“  Meine banale Ausrede macht mich fertig. Denn sie hält mir einen Spiegel vor, in den ich gar nicht sehen will. Sie sagt mir: „Wie voll und dicht ist dein Leben, dass du bei allen Aktivitäten die Minuten zählst, die Stunden sparst und ganze Tage so durchgetaktet hast, dass du dem Fahrrad keinen Platz geben kannst?“ Ich sage diesem Spiegel: „Der einzige Grund, nicht mit dem Rad zu fahren, sollte sein, dass ein familiärer Großeinkauf auf kein Fahrrad passt“. Dieses Argument wäre dann einmal in der Woche schlagend.

Also sind unsere Jungs gnadenlos: „Aha, haben wir mal wieder keine Zeit, um mit dem Rad zu fahren?

Sind wir mal wieder zu schön angezogen, um mit dem Rad zu fahren?“. „Ist es schon wieder zu ungemütlich, um das Auto stehen zu lassen?“ Was sollen wir darauf sagen? Nichts, wir schämen uns still. Die Buben lasten uns diese Sünden zu schwer an.

Und weil mir nichts anderes einfällt, hole ich zum Gegenschlag aus. Ich erinnere sie, dass ich nur Bio-Produkte einkaufe. Ich halte ihnen vor, dass sie nur durch meine Weitsicht regionales Gemüse, Eier und Obst essen. Ich erkläre ihnen, dass ich 70 % meiner Kleidung gebraucht kaufe. Wir verwenden keine Alufolie, essen Joghurt aus dem Glas und waschen mit grünem Waschmittel. Mein größter Trumpf aber ist noch im Talon. Denn dieser Schlag trifft meine Männer direkt in ihre eigene Unzulänglichkeit, die auch durch keinen Missionierungsversuch meinerseits ins Wanken gekommen ist: „Ich esse kein Fleisch.“ Ich grinse triumphierend und verlasse den gemeinsamen Frühstückstisch.

Sie rufen mir nach, dass sie mir ein kleines, 20 kmh fahrendes E-Auto kaufen werden und lachen sich über ihrem Schinkenbrot krumm.

Heute Morgen schaut der Kleinste entsetzt aus dem Fenster. Wir schauen alle auch aus dem Fenster. Eine Bierflasche steht am Terrassenrand. „Das ist Weltverschmutzung! Papa warst du das?“. Mein Mann hat gestern 1 Kubikmeter Holz hinters Haus gebracht. Da ist er wohl durstig geworden.

Und schon beginnt wieder die Diskussion, wir sprechen über Müll, der liegen bleibt, über Autos, die cool sind, aber die Umwelt verschmutzen, wir nehmen uns selbst an der Nase, erzählen, dass am Freitag wieder eine Demo ist. Der 13-Jährige schaut mich verschmitzt an. „Und, fährst du mit dem Auto hin?“.

Über das Wunder, die Hände frei zu haben

Erfahrungen zur Handynutzung unter Pubertieren

Unsere zwei großen Söhne sind Handybesitzer. Mit Stichtag 10. Geburtstag haben beide jeweils ein mobiles Gerät von uns bekommen, die sie seither, außer wir fordern sie dazu auf, immer bei sich tragen. Wir fordern sie relativ oft dazu auf, ihre Handys wegzulegen. Wir vertreten die Theorie, dass Begeisterung für Dinge wie Sport, Kreativität, Musik, Gespräche und Bücher zumindest die größte Suchtgefahr abwenden kann.

Wir versuchen als Elterngeneration die neue digitale Generation zu verstehen, ihre Kommunikationswege nicht ständig zu hinterfragen und Verständnis für die Identifikation der jungen Menschen mit ihren Geräten aufzubringen. Wir haben konsequente Regeln über die Verwendung der Geräte aufgestellt. Wir kontrollieren ihre Datenflüsse, ihre Spielzeiten und kaufen nur alle zwei Monate eine neue Wertkarte.

Wir haben alles im Griff. Alles, außer ihre Hinterlistigkeit.

Alles, außer den Druck und die Erwartungen, die von draußen in unser familiäres System einfließen. Alles, außer ihre technische Überlegenheit.

Zuerst ein paar Worte zur Hinterlistigkeit. Das eine Kind: „Mama, ich gehe hinauf in mein Zimmer“. Mutter: „Stopp, das Handy aus der Hosentasche!“. (Die Jungs dürfen die Handys nicht mit in ihr Zimmer nehmen). Das andere Kind „Mama, ich höre eh nur Musik, ich muss Matheaufgabe machen.“ Mutter: „Du wolltest lernen und Musik hören, warum schreibst du dann Whatsapp-Nachrichten?“ Zugegeben harmlos, trotzdem der Anfang vom Ende. Wir Eltern wissen: wenn wir hier nachlässig werden, dann nehmen sie nicht nur unseren kleinen Finger, sondern die ganze Hand.

Dann kommen die Freunde ins Spiel, die Peer-Group. Leider gibt es in unserem Umfeld viele technikverliebte Eltern. Diese Eltern kaufen ihren Kindern die teuersten, besten Geräte. Die Kinder nehmen sie mit in die Schule und schon wollen unsere Kinder auch so tolle Geräte. Zu Hause hören wir dann: „Aber der xxx hat schon wieder ein neues Handy, warum kriegen wir das nicht auch?“ Wir: „Weil wir der Meinung sind, dass die Geräte, die ihr besitzt völlig in Ordnung sind“. Diesen Dialog führen wir über Autos, Mobilgeräte, Tabletts, Fernseher, Mountainbikes, bald wahrscheinlich über Waschmaschinen.

Die technische Überlegenheit ist ein unangenehmes Thema, denn manchmal verstehe ich wirklich kein Wort von dem, was mir meine Söhne erzählen.Ich könnte dann über literaturwissenschaftliche Fragen sprechen. Ich könnte die Augenbrauen heben und um Erklärung bitten oder ihnen stumm nickend zustimmen. Meistens wähle ich die dritte Option.

Was aber tun, wenn sich die Jugend der elterlichen Kontrolle entzieht?

Nun trägt es sich zu, dass die jungen Männer auch immer wieder für eine Woche auf Schikurs, Englischcamp oder Wienwochen fahren und sich unserer wohlmeinenden Beobachtung entziehen. Rechtzeitig zum Einzahlungstermin der Reisekosten keimt auch immer die Frage der Handynutzung unter den Eltern auf.

Wir haben letzten Sommer die großartige Erfahrung gemacht, dass unser Großer auf Englisch-Camp war. Nicht, dass er schlecht in Englisch wäre, es ging eher um den Spaß. Und der Spaß war groß. Es gab einen einzigen bitteren Moment.

Am Tag der Ankunft mussten ALLE ihre Handys abgeben.

Pro Tag stand ihnen dann eine Stunde das Gerät für persönliche Verrichtungen zur Verfügung. Ganz ehrlich: Unser Sohn hat sein Handy in dieser einen Woche nur einmal verwendet. Dann die ganze Woche nicht mehr. Er hat eine ganze Woche ohne Handy überlebt! Und er war glücklich dabei, im Originalton: „Das war super ohne Handy!“ Ich stelle mir vor, dass die Jugendlichen dann in dieser vergnüglichen Sommerwoche miteinander gesprochen haben. Sie haben wohl die Augen aufgemacht, für das was sie gesehen haben.

Sie hatten endlich ihre Hände frei und konnten vieles tun, was sonst einfach nicht geht, wenn man ein Handy in der Hand hat – einen Ball fangen zum Beispiel.

Es war grandios. Und mit Sicherheit die wertvollste Erfahrung im Jahr eines heranwachsenden jungen Mannes im 21. Jahrhundert.

Nun steht der Schikurs des Mittleren an. Unter den Eltern und Lehrern wir schon diskutiert. Einige Eltern sind besorgt, sie wollen täglich wissen, wie es ihrem Kind geht. Ich habe hier eine sehr klare Einstellung. Wenn ich schifahre, brauche ich kein Handy. Da habe ich Schistöcke und dicke Handschuhe. Wenn ich zu Mittag esse brauche ich kein Handy, dann habe ich Messer und Gabel. Wenn ich müde bin, brauche ich auch kein Handy, dann brauche ich ein Bett. Wenn ich Freunde um mich habe, brauche ich meine Eltern nicht anrufen und meine Eltern brauchen mich nicht anrufen.

Wenn es einem Kind schlecht geht, gehe ich davon aus, dass Vertrauenspersonen von Seiten der Lehrer und Lehrerinnen da sind, die sich bei uns Eltern melden. Außerdem gibt es so etwas wie gute Freunde. Ich möchte hier an dieser Stelle alle Eltern dazu einladen, loszulassen. Geben Sie ihren Kindern die Chance, eine Woche ohne Handy zu verbringen. Es lernt dann vor allem zwei Dinge: Ich lebe, obwohl ich nicht wische und tippe. Die Welt ist wunderbar, wenn ich den Kopf hebe.

Ja, das ist Herbst

Über Trugbilder der Natur, müde Schmetterlinge und den Lauf der Zeit

Lange haben wir so getan, als wäre nichts. Als würde uns die Geschichte mit der Dunkelheit nicht betreffen. Als wäre der Herbst ein endloser Reigen aus lichtdurchfluteten Spaziergängen, Cappuccinos im Freien und offenen Jacken. Lange haben wir erfolgreich verdrängt, dass die Natur, ihren vorbestimmten Weg geht. Die Natur lässt sich nur vordergründig von den geschenkten Sonnentagen betrügen. Sie schenkt uns unpassend rote Himbeeren und Erdbeeren, die nicht der sommerlichen Gier der Schnecken zum Opfer fallen. Sie verwöhnt uns mit unpassendem Vogelgezwitscher, dass uns verzweifelt glauben lässt, dass sich die Stille und die Dunkelheit dieses Jahr anderswo ausbreiten werden. Dass sich das Vergehen und das Verblühen an einem fernen Ort abspielen werden.

Und dann hat der goldene Baum an der Straßenecke plötzlich keine Blätter mehr.

Und dann kündet der letzte Sonnen-Sonntag mit einer fremden Brise das echte Wetter an. Endlich ist es so, wie es sein soll, flüstern mir die Pflanzen zu. Wo bleibt die Wehmut in ihrem eigenen Vergehen? Gut, dass es nun feucht, kalt und düster ist, seufzen die Tiere. Wo bleibt ihr Festhalten an der Fülle?

Ich hatte es wirklich vergessen, raunt mir meine innere Stimme zu. Ich hatte tatsächlich geglaubt, Stille, Dunkelheit und Einkehr würden mich dieses Jahr nicht berühren. Doch sie tun es. Es ist eine Ohrfeige der Natur, ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht, ein grober Weckruf. Es hat sich nichts geändert:

Die Ewigkeit ist die unendliche Veränderung.

Alles lebt, alles vergeht, alles wird. Die Sommerenergie muss ruhen, darf eintauchen in das tiefe Verständnis einer universellen Wahrheit. Und ich hier kann nur staunen und annehmen. Das was ist. Ich laufe durch den nebligen Abend, sehe, dass fast alle Blätter von den Bäumen gefallen sind. Innenschauen fällt jetzt leicht, es ist so leise. Innenschauen tut auch weh, denn es rührt sich was, es lässt sich nicht in Worte fassen. Es schwirrt in meinen Innenräumen wie ein müder Schmetterling. Ist es das, das Unaussprechliche? Dieser tiefe Respekt vor dem Werden und Vergehen. Die Sprachlosigkeit vor dem eigenen Werden und Vergehen. Der von unnützer Angst durchtränkte Wille vor dem Loslassen und Hingeben? Die braun-roten Blätter rascheln mir behutsam zu: Es ist der Lauf der Zeit.

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Wurm-Tage und die Kunst, nicht auf Liebe zu vergessen

Es gibt Tage im Leben, da ist der Wurm drinnen.

Oft wissen wir nicht einmal, woher der Wurm kommt und wieso er ausgerechnet an diesem Tag sein Recht auf Chaos, Unglück, Streit oder Verwirrung einfordert.

So ein Tag ist mir unlängst passiert. Der Wurm hat sich angekündigt. Still und leise hat er ein flaues Gefühl in meinem Magen verbreitet, das ich zunächst hinter jenen Tätigkeiten zu verbergen suchte, die für gewöhnlich so etwas wie Glück versprechen.

Leider ließ sich der Wurm nicht abhalten. Er hasst es, wenn er verdrängt oder in die Ecke geschoben wird. Er bahnt sich stur seinen Weg. Auf den ersten Blick war alles harmonisch. Ein Sonntag, ein gedeckter Frühstückstisch, gesunde Kinder, eine vom Sport ausgeglichene Mutter. Und dann. Von einem Moment auf den anderen schlug der Wurm zu.

Worte wurden gewechselt, ein Polster flog im Übermut durchs Zimmer, zwei Streithähne erhoben sich zum Kampf. Der Wurm suchte sich aus dem Hinterhalt eine klitzekleine Lücke in meiner Existenz, eine Gelegenheit, die normalerweise aus einer Mischung aus Toleranz und Liebe vorüberzieht. Streit schlichtend, Harmonie suchend, Emotionen ausgleichend würde ich normalerweise den Sonntag retten. Doch diesmal nicht.

Der Wurm berührt einen wunden Punkt.

Der Wurm schlingt sich um meine eigene Bedürftigkeit. Der Wurm beißt sich fest in meiner Ungeduld. Der Wurm küsst mein Recht auf Frieden und Erholung. Er wirft mir die Erschöpfung einer ganzen Woche, nein, eines ganzen Jahrzehnts vor die Füße.

Die Streithähne hätten sich nach einigem Hin und Her sicher von selbst versöhnt. Darauf kann ich nicht warten. Der Wurm will sich jetzt und sofort Gehör verschaffen. Und zwar laut, fordernd und wütend. Etwas in mir übernimmt die Kontrolle, das ich normalerweise gut zu besänftigen weiß. Es ist die sonst zarte Stimme, die sagt: „Hey, ich bin auch ein Mensch und ich mag jetzt mal loslassen und entspannen.“ Nicht mehr ganz so zart, fordernd und böse ruft sie hinterher: „Ich will, dass ihr nach meiner Friedenspfeife tanzt.“

Der Tag vergeht, der Wurm bleibt drin. Alle Kraft dahin. Einer der Streithähne rutscht aus, einfach so, beim Spielen, bricht sich den Arm.

Dann ist der Wurm weg. Die Liebe kommt zurück. Wo war sie den ganzen Tag? Hat sie Angst vor dem Wurm?

Plötzlich ist es still in uns. Wir holen den Radiergummi und radieren den Tag aus. Wir verzeihen einander. Zurück bleibt eine Traurigkeit. Eine Traurigkeit, einen Tag in diesem wunderbaren, gesegneten Leben versaut zu haben. Alle zusammen haben wir es geschafft.

Eine Freundin schreibt mir heute den wichtigsten Satz: Sei nicht so streng mit dir.

Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Wurm-Tage auch immer wieder von der Liebe gerettet werden.

Wie Geschichten im Sommer wachsen

Blog_Mirijams Schreibuniversum_Wie Geschichten wachsen

Oder: Welche Wege Inspiration gehen kann

Eine der herausragenden Qualitäten des Sommers ist für mich, dass er es mir leicht macht. Im Sommer gelingt so vieles: im Hier und Jetzt sein, einatmen, ausatmen, Stille hören und ankommen. Dort wo ich gerade bin: in meinem Garten, am Strand, am Berg, am Meer, in meinem Bett, auf meinem Fahrrad. Je länger ich den Sommer auskoste, umso stiller wird es in mir. Gedanken an gestern verlieren sich, Gedanken an morgen sind unnahbar, und schließlich uninteressant. Und dann, wenn es still wird in mir, dann sehe ich diesen großen, unfassbaren Platz in mir. Es ist der Platz meiner Möglichkeiten, meiner Ideen und meiner Entfaltung.

Ungefragt tauchen dann Ideen auf: Geschichten, die ich erzählen möchte.

Diese Geschichten wachsen in mir, entwickeln sich in der Tiefe meiner Inspiration zu Fäden und Verbindungen, die ein größeres Ganzes ermöglichen. Es ist, als würde ich diese kleinen Ideen in Päckchen verschnüren und tief in meinem Inneren verstauen. Ich streichle sie zart, und flüstere ihnen beruhigend zu, dass ich sie hervorholen werde, wenn es Zeit ist. Noch bin ich zu sehr mit dem Sommer, dem Hier und Jetzt und jedem einzelnen Atemzug beschäftigt, dass ich es nicht wage, diese Päckchen auszupacken.

Denn ich weiß, dass dieses Auspacken einem Einsinken, Versinken und Verbinden gleicht. Es ist ein Abtauchen in einen Seelengrund, zu dem ich nur dann Verbindung aufbauen kann, wenn das Alltägliche den imaginären Schutzwall respektiert, den ich brauche, um überhaupt in dieses Eintauchen zu gelangen. Mir ist bewusst, dass ich selbst dem Alltäglichen klare Grenzen setzen muss.

Ich weiß allerdings aus Erfahrung, dass es mir dienlicher ist, wenn ich mich auch hingebe, wenn das Leben Fahrt aufnehmen will.

Und dann kommt das Ende des Sommers. Dieses Ende wird mit Wucht und Schärfe von Schulbeginn, Kindergartenbeginn, Unterrichtsbeginn eingeläutet. Die warmen Päckchen mit den wundervollen Geschichten ruhen tief in mir. Ich flüstere täglich: „Wartet noch ein bisschen, noch bin ich nicht bereit…“. Ich verbringe meine Tage mit gestern, heute, morgen, leite eine große Familie durch den Abschied vom Sommer, kaufe Socken, Hefte und Tintenkiller. Zahle Erlagscheine ein, halte Deadlines ein, melde zu Turnkursen an, gehe zu Elternabenden, schaue beim HipHop zu, räume den Geschirrspüler aus. Kleine Gedankenfunken, strahlend und glitzernd: ein Campingbus, Meerblick, Geschirrwaschen mit Salzwasser, Wind, Sand auf meinen Füßen.

Langsam läuft hier bei uns der Alltag, das Gestern – der Sommer bleibt als Kraftquelle. Das Morgen ist der Tag, an dem ich endlich beginne, meiner Kreativität wieder Raum zu geben, es ist der Tag, an dem ich die vielen, im Sommer so leicht geschnürten Päckchen auspacken werde. Dann klappe ich den Laptop auf, und versinke in neue Geschichten, die mir der Sommer geschenkt hat.

 

 

Über die Früchte auf der anderen Seite des Baums

BlogMannhochvier_Mirijam Bräuer_Früchte auf der anderen Seite des Zauns

Unlängst traf ich einen Fotografen. Er hat Fotos von mir gemacht. Auf der Zunge brannten mir die Worte. „Bitte mach aber schon die Falten da oben auf der Stirn weg.“ Ich habe die Worte mit einem großen Schluck Prosecco hinuntergespült. Der Nachgeschmack meiner eigenen Gedanken ließ mich einige Tage nicht los. Später erzählte mir der Fotograf, dass die meisten Frauen genau das von ihm wollten. Das Optimieren des eigenen Antlitzes.

Vor kurzem hat ein weltberühmter Fotograf junge Menschen zu eben dieser Optimierung aufgefordert. Viele sind seiner Einladung nachgegangen und haben ihr Aussehen den Hochglanzmagazinen angepasst. Einige haben sich selbst so belassen, wie sie eben sind.

Selbstoptimierung. Ein großes Wort unserer Zeit. Es muss immer alles passen. Wenn wir hinaus gehen in diese Welt, sollte uns niemand unsere Sorgen, Ängste, Schwächen und Erfahrungen ansehen. Möchten wir Eindruck vermitteln, dass wir alles im Griff haben? Dass wir trotz der Fülle an Aufgaben, die uns täglich überschwemmt, Zeit für uns haben, ins Yoga gehen und Freunde treffen. Dass wir nie müde, abgeschlagen oder verzweifelt sind? Dass die Kinder funktionieren, sie in der Freizeit Erfolgen nachjagen und wir noch um 21.00 Chinesisch lernen? Dass sich unsere Zeitpläne immer ausgehen und der Takt der Optimierung uns durchs Leben schlägt?

Wer will das wirklich? Wie lange hält diese Welt diesen Trend noch durch? Wann dürfen wir wieder zu uns zurückkehren? Wann können wir aufhören, im Takt der Fremdbestimmung durchs Leben zu hetzen, uns unsensible Lügen einflüstern, die uns vormachen, wir würden eh alles schaffen?  Wann hört das „mehr, besser und schöner“ endlich auf?

I am what I am, and what I am needs no excuses …

Ist es nicht sehr befreiend, wenn wir die Falten, die im Spiegel aufblitzen, als Zeichen unserer Lebendigkeit würdigen? Ist es nicht erlösend, wenn wir vor anderen zugeben, dass hin und wieder gar nichts mehr geht? Ist es nicht verlockend, sich selbst auch zuzugestehen, dass das Leben nicht immer eine Blumenwiese ist, sondern viel von uns fordert? Vielen von uns kommt es sicher bekannt vor, dass das, was wir nicht sind, um so vieles verlockender ist, als das eigene Dasein. Die Früchte auf der anderen Seite des Baums sind so wie das Essen, dass in meiner Kindheit beim Nachbarn immer besser schmeckte als zu Hause.

Ich gestehe, manchmal ging ich wirklich durchs Leben und stellte mir vor, dass bei allen anderen alles passt. Ich gab mich der Illusion hin, dass es alle besser machen als ich. Was eigentlich besser? Faltenfreier, entspannter, sportlicher, schmerzfreier, fröhlicher, erfolgreicher und eleganter. Die Falle, in die ich tappte war der Vergleich. Ich durfte lernen, dass sich mein Glück keineswegs aus dem Vergleich mit dem Leben anderer lukriert. Ich durfte lernen, dass Glück etwas höchst Individuelles ist. Ich durfte lernen, dass mein Glück aus Zutaten besteht, die nur ich spüre und kenne. Seither bin ich bescheidener, entspannter und ruhiger. Ich sehe das, was die anderen machen mit Interesse. Ich beobachte meine Reaktionen auf die „eleganten Lebensläufe“ anderer. Ich spüre, dass mein Herz erst dann freudig zu pochen beginnt, wenn meine Zutaten des Glücks auf die Bühne treten. Diese Erkenntnis hat weh getan und hat mich gleichzeitig frei gemacht. Weh getan, weil ich manche Träume als die Träume Fremder entlarvt habe. Frei gemacht, weil ich immer mehr meinen eigenen Träumen folgen kann.

Mögest du den Spuren deiner Glückszutaten jeden Tag ein wenig folgen können …

Was Kinder alles können

BlogMannhoch4_Mirijam Bräuer_Was Kinder alles können

In Zeiten der Elternsprechtage, Schularbeiten und allgemeinen Optimierungszwänge fielen mir heute morgen im Wald unendlich viele Dinge ein, die unsere Kinder können.

„Was Kinder sonst noch können…“

(13)

  • Dem Fünfjährigen die Angst vor Würgeschlangen nehmen
  • Wasserhähne mit Tixo abdichten
  • Kreuzfahrtschiffe und Flugzeuge von Weitem nach Bauart erkennen

(10)

  • Den höchsten Baum im Wald erklettern
  • 400 selbst erfundene Waffen zeichnen
  • Rückwärtssalto aus dem Stand

(5)

  • Krebse im Mittelmeer dressieren und kaltes Wasser ignorieren
  • Sich als König verkleiden und als solcher den Tag verbringen
  • Über frühere und kommende Leben nachdenken

Gerne fortzusetzen …