Wo ist Elsa? – Abschied von lila Gläsern und Glitzerkleidern

In letzter Zeit vermisse ich Elsa. Elsa, das war das hellblonde fröhliche Wesen, das in einem grünen Glitzerkleid durchs Haus tanzte. Elsa, das war ein dem Märchen entsprungenen Wesen, das fern aller Grenzen zwischen weiblich und männlich den Tag konsequent bunter machte. Elsa, das war der Grund meines Glaubens an das Magische mitten unter uns. Wo ist Elsa hin?

Heute: Wir steigen vor dem Kindergarten aus dem Auto. Der Kleinste trägt über der Schulter seine Nemotasche, in die er heute selbst die Jause eingepackt hat. In seiner Hand ein altes hellrosa Lippgloss aus dem Fundus der Mutter.  Die Haube passt zur blitzblauen Benetton-Jacke, die schon mehrere Buben überlebt hat. „Mama, das Lippgloss habe ich mit, damit alle wissen, warum ich so gut dufte. Ich gebe es aber erst hinauf, wenn ich in der Regenbogengruppe bin.“ Mein Elsa-Herz schlägt freudig. Noch befinden wir uns in der Welt, in der alles sein darf. Eine Welt, in der es weniger Teilung, weniger Trennung, weniger Grenzen gibt. Wir queren die Straße, die beste Freundin des Kleinsten im Schlepptau. Ein paar Schritte weiter beschleunigt der Kleinste seinen Schritt. Ich höre ihn mehr zu sich selbst als zu uns murmeln: „Ich laufe jetzt schon mal voraus. Ich bin ein Mann und Männer dürfen überall hin.“ Für einen minimalen Augenblick hört mein Elsa-Herz auf zu schlagen.

Was ist passiert? Wer treibt Elsa fort von uns? Wer flüstert dem kleinen Mann diese Sprüche ein? Wie verinnerlicht er diese Sätze, ohne dass ich es auch nur merke und laut aufschreien kann. Ich bin Feministin, und allein deshalb bin ich davon überzeugt, dass Frauen UND Männer überall hingehen dürfen, wenn sie wollen. Ich komme nicht dazu, dem Kleinsten diese Überzeugung im morgendlichen Gewusel glaubhaft zu machen. Halte mich am Lippgloss fest, das der kleine Mann voller Freude nun in seiner – Göttin sei Dank – in allen Farben schillernden Regenbogengruppe, vorführt und das Geheimnis seines guten Duftes preisgibt.

Und plötzlich sind lila Gläser out

Schauplatzwechsel. Eine fast unzählbare Menge an jungen Burschen sitzt an unserem großen Küchentisch. Die großen Jungs haben mehrere Freunde spontan getroffen und zu uns eingeschleppt. Eine Landplage an unausgereifter Männlichkeit breitet sich in der Atmosphäre aus. Natürlich haben diese heranwachsenden Menschen großen Hunger und mein Eiervorrat wird mit einer Mahlzeit gegen null reduziert. Die nötige Proteinzufuhr wird serviert, bunte Wassergläser werden gefüllt. Der kleinste der Männer ist auch leicht erregt dabei. Er sitzt im letzten verbliebenen Tripptrapp-Stuhl und überschaut lustvoll die Menge. Er führt Wort, erzählt Witze und alle müssen lachen. Das schulden die Großen wohl dem Kleinsten. Als sein Glas, das in seiner Lieblingsfarbe Lila, auf den Tisch kommt, brüllt der Kleinste plötzlich: „Ich hasse Mädchenfarben! Ich will ein grünes Glas!“ Was für die anderen am Tisch scheinbar keiner weiteren Diskussion mehr wert ist, verknotet mir den Magen und holt mir Tränen in die Augenwinkel. Wortlos bekommt er von mir ein grünes Glas. Es sollte Trauer tragen, denn Elsa wird aus unserem Haus vertrieben. Für alle geht der Tag seinen freudigen Lauf. Mir ist, als wären die Polkappen verschoben.

Ich quäle mich, frage mich, wie kommt es, woher kommt es? Dieses plötzliche Bewusstsein einer unausgewachsenen Männlichkeit? Diese Notwendigkeit, sich unter Männern zu positionieren? Alles Weibliche entsetzt und wütend von sich zu weisen? Dieses Wissen, dass unter Männern so manche Dinge ungewünscht sind? Die überraschende, unpassende Härte in seinem Gesicht?

Wir haben ihm diese Überzeugungen nicht überbracht. Oder vielleicht schon? Wie viele von unterbewussten Rollenbildern übermitteln wir unseren Kindern genauso unbewusst? Wir haben ihn hier im geschützten Raum nur der sein lassen, der er sein wollte, mit Kleid, mit Hose oder pudelnackig. Und trotzdem sucht und findet der Kleinste immer wieder neue Positionen seiner Identität.

Ich bin nicht hier, um es zu erklären. Ich sehe mit neugierigen Augen zu, wie ein sehr junger Mann seinen Platz unter Männern, unter Freunden und in der Welt sucht. Dazu gehört in diesem Alter, wenn wir es zulassen, wohl auch, Rollen auszuprobieren und Freude daran zu haben, sich jeden Tag wieder neu zu erfinden.

Wann haben wir Erwachsene diese Art von Neuerfindung das letzte Mal gemacht? Tut so ein Sich neu erfinden nicht auch schrecklich weh? Macht es nicht Angst? Sind wir immer noch die, die wir waren als wir klein waren? Bleibt der Kern? Nur die Hülle aus Erfahrungen macht uns anders? Was wäre, wenn wir diesen Kern hin und wieder besuchen? Mal in eine andere Rolle schlüpfen? Mal das ganz Weibliche nach außen kehren, mal mit unseren männlichen Energien spielen? Mal wieder Fabelwesen sein? Oder wie wäre es, wenn wir uns vielleicht mal nicht ganz so ernst nehmen in unserer offensichtlichen Vergänglichkeit. I will always remember Elsa. Und: Lippgloss ist für alle da!

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