Leseprobe Teil I.

I. 

Bewegung im Spiel

München, 2001

 

Grün leuchtet mir der Tag entgegen. Mein Rhythmus folgt den Wellen der Isar. Ich laufe neben dem Fluss, der Tag nimmt mich in seine saftig-nebeligen Arme, trägt mich die geschotterten Wege den kalten Fluss entlang. Nichts fehlt in diesem Augenblick. Weder Mutter noch Vater. Weder die Liebe noch das Abenteuer.

 

Es ist einer dieser lang ersehnten und schließlich doch zu warmen Märztage. Feuchte, undurchsichtige Luft strömt vom kalten Fluss empor. Mein Tempo folgt dem stillen Ruf der Isarwellen. Nichts fehlt in diesem Augenblick. Ich laufe mit meiner Hündin Karenina, meiner tief im Herz liegenden Gefährtin, entlang der Isar. Immer gleiche Wege. Die Hündin und ich lieben dieses Ritual des Gleichklangs. Im Schnee, im Regen, im Wind, im glühenden Sonnenschein.  In diesen wenigen Stunden des Tages spüre ich sicheren Boden unter den Füßen. Wohin verzieht sich dieser Boden, sobald der Tag in Fahrt kommt? Warum ist nur am Morgen mit den Laufschuhen an den Füßen die Welt nicht flüchtig? Warum verfange ich mich immer heftiger in diesem Gefühl eines beklemmenden Stillstands? Warum taumelt mein Herz? Ich laufe, laufe, bleibe immer noch die eine unveränderlich Trauerflor tragende Maya. Dennoch dreht sich meine Welt schnell und unnachgiebig. Nimmt mir fast die Luft zum Atmen. Widerwillig frage ich mich, wo ich denn hinwill. Zu den Gräbern? Weiterlaufen, immer weiterlaufen, nur der Hund und ich, bis ans Lebensende, Weltenende, Schmerzende. Wie unbekannt-schwerelose Objekte einer anderen Zeit zieht das Leben in mir, über mir, unter mir unbestimmte Bahnen: meine anspruchsvolle Arbeit im Hotel, die leidenschaftliche Insel-Liebe, ohne Zukunft, Großmutter, die für mich Zuflucht und Flucht in einer Person bedeutet, meine Eltern, begraben in den Alpen.

 

Zurück, eine Stunde später, ziehe ich meine Laufschuhe vor dem Eingang des Wohnhauses aus. Das Entrée ist mit einem wundersamen orangen Teppich ausgekleidet. Wer hatte bloß die Idee, in einem Hauseingang einen orangefarbenen Teppich zu verlegen? Niemand hat mir diese eine Antwort gegeben. Jeden Tag wundere ich mich aufs Neue. Die Vorstellung, dass auf dem hell-leuchtenden Teppich meine Fußspuren für immer zu sehen sind, Laufschuhspuren, Mayaspuren, Gräberspuren, Trauerspuren, hinterlässt in mir eine bedrohliche Übelkeit. Welche Fährte will ich der Welt hinterlassen? Wie durch ein Wunder sind Kareninas Pfotenabdrücke niemals zu sehen. Die Hündin läuft in meinem Appartement vor hungriger Ungeduld hin und her, hechelnd wartet sie meine Dusche ab, eilt dann mit mir hinauf zu Großmutter. In ihrem Esszimmer, das direkt in den Eingangsbereich mündet, riecht es wie jeden Morgen nach aufgebähten Semmeln und Hagebuttentee. Großmutter ist schon zurechtgemacht. Sie trägt ausschließlich Kleider, niemals Hosen. Ihre Kleider sind unauffällig, elegant, ein bisschen altmodisch. Auf der linken Seite, auf Herzhöhe, steckt sie sich täglich eine goldene Brosche an. Woher diese Brosche kommt? Ich wage nicht, sie zu fragen. Wenn Großmutter ausgeht, trägt sie über ihren Kleidern im Winter einen ihrer vielen wertvollen Pelzmäntel, staffiert mit Gerüchen aus fernen Zeiten. Im Sommer legt sie eine beige, elegante Strickjacke, die sie in mehreren Ausführungen und Beigetönen im Kleiderschrank hat, über die alternden Schultern. Manchmal beneide ich sie, denn sie denkt nie darüber nach, was sie anziehen soll. Die vielen handgenähten Trachten, ihre farbigen Alltagsdirndlkleider und die einfachen Kniebundhosen hat Großmutter auf der Alm zurückgelassen. Vor einigen Jahren hat sie die Türen des Jagdhauses geschlossen. Sie hat es nicht erklärt. Ich fragte nicht. Ich wage noch immer nicht, sie daran zu erinnern, dass ein Teil von mir dort oben geblieben ist. Eine Kindheit-Maya, eine Alm-Maya, eine Schwarzbeer-Maya. Eine vogelfreie, wunderbar-leichte Version meiner selbst. Eingesperrt nun in dunklen, leblosen Räume, in denen bloß die Geister der geschossenen Hirsche oder die schutzlosen Seelen der Urahnen umherirren. Gromutter hat mit den Geistern meine Erinnerungen an endlose Sommerferien, sündhaft unbeschwerte Kindheitstage, eingeschlossen. Wie viel von sich hat sie dort oben fort gesperrt? Sie spricht darüber nicht. Wer lüftet das alte Haus da oben? Selten kommen mir diese Gedanken. Es sind zu viele Fragen. Großmutters Entscheidung gar anzweifeln oder ihre ganze Geschichte erfahren zu wollen, überfordert mich. Ich bin zu beschäftigt mit mir selbst, mit dem bloßen Leben, dem Überleben. Die Angst vor der Wahrheit täglich vor Augen, trübe Erinnerungen pochen in meinem abwartenden Herzen.

 

Karenina stürmt in Großmutters enge Küche, um sich schwanzwedelnd nicht nur ihr Frühstück, sondern ihren Leckerbissen zu erbetteln. Alles folgt einem Ablauf, den nie jemand festgelegt hat. Es ist ein mauerhohes Ritual, das aus sich selbst – überflüssig und unentschuldigt – entstanden ist. Ein fester Ablauf, der uns jenen Halt gibt, den wir bitter nötig haben. Und jetzt hopp ins Körbchen. Großmutter spricht jeden Tag zur selben Zeit den gleichen Satz. Karenina springt mit einer Scheibe Bündner Fleisch in den Hundekorb. Dort habe ich bereits als kleines Mädchen bei Großmutters Jagdhund Bilka schlafschützenden Unterschlupf gesucht. Großmutter schenkt mir endlich Tee ein und widmet sich dann ihrer dampfenden Tasse Kaffee. Ein stiller Moment, in dem wir unsere Tassen nehmen und die Wärme dieses Gleichklangs spüren. Jeder Handgriff ist eingeübt, die Semmeln und das getoastete Pfisterbrot bestreiche ich dick mit Quittengelee. Das Quittengelee stammt von einer Cousine Großmutters, die seit 30 Jahren Marmelade für alle lebenden Familienmitglieder einkocht. Es wird jedes Jahr weniger Marmelade, die Tante Gundula in die sauberen Gläser füllt. Nach dem uralten-moselnahen Rezept ihrer Mütter und Großmütter packt sie in der warmen Jahreszeit die Geschichte einer großen Familie in das traditionelle Gelee. Alle Freuden, Sorgen, Enttäuschungen, Schmerzen und Hoffnungen rührt sie in das entzückend-herbe Gebräu. Sorgsam beschriftet sie die verschlossenen Gläser mit einer Schönschrift, die aus fernen Jahrhunderten bloß für das Beschriften der Marmeladegläser bewahrt worden ist. Einst hatte sie als Fotografin in der Dunkelkammer mit namenlosen Herren ihrer Zeit Marihuana geraucht. Das anrüchig Rebellische ist das Moment der Überraschung in Gundulas Quittengelee.

 

Mit jedem bitter-süßen Löffel, den wir auf unsere Brote streichen, bestätigen Großmutter und Enkelin ihre verwunschene Herkunft, im Gleichklang versorgt von spitz-ungesagten Zwischentönen. Die Sicherheit, in den Fußspuren unserer Ahnen zu treiben, wenn wir dieses Quittengelee zu essen, schenkt Großmutter und mir für wenige Minuten die Gewissheit, eine Vergangenheit und eine Zukunft zu haben, eingewoben zu sein, in ein dichtes Netz aus Lebensgeschichten, deren Bedrohlichkeit uns beruhigt. Wir sind nicht alleine vom Himmel gefallen. Während wir den vergangenen Tag kommentieren und den bevorstehenden Tag vermessen, spüre ich die winzigen, unsichtbaren Fäden, die sich von uns aus einen Weg in die Vergangenheit bahnen. Dieses wundervolle, nach gebähten Semmeln und Hagebuttentee schmeckende Ritual ist der Rahmen, in den wir unsere Tage zwängen. Sie sind der Ausgangspunkt und der Endpunkt zugleich, weder ich noch Großmutter haben je einen trauerdurchtränkten Tag ausgelassen, an dem wir uns nicht morgens an ihrem Biedermeier-Esstisch gegenübergesessen haben, die Füße am schweren Perserteppich.

 

Und dann ein neuer Tag. Das frische Grün des Märztages umarmt mich ungefragt. Es ist höchste Zeit. Wofür? Ohne Absicht dreht sich meine Welt nicht mehr nach meinen Gesetzen. Alle Fäden und Regeln, die mich aufrecht halten, versagen ihre Dienste. Etwas in mir übernimmt die Kontrolle, ich kenne es nicht, es kratzt unter den Schulterblättern. Dieses Mal geht es nicht anders. Großmutter muss alleine frühstücken. Eine Stimme in mir verweigert die Umkehr. Will ich die Freiheit erjagen? Alle Enge aus mir herauslaufen, alles Unbrauchbare in die Wellen der Isar spülen? Allem Ungesagten einen Platz in meinem Körper einräumen, oder es bloß mit den Laufschuhen am spröden Schotter zermalmen?

 

Ich habe keine Verpflichtungen, die meinen Lauf stoppen könnten. Ich muss nicht zur Arbeit, muss nicht ins Hotel. Waghalsige Alternativen gibt es in meinem Leben ohnehin nicht. Eine fremde Energie frisst an mir und füttert mich, zeitgleich. Ich will dringend aus meiner glattpolierten Haut fahren, die Risse darin sind untrügliche Zeichen vom richtigen Zeitpunkt. Bin wütend, weiß nicht auf wen. Höre mein Herz schlagen, unwissend, in welche Höhen es sich schlagen mag. Es gibt einen unsinnigen Takt an.

 

Außer Atem verschlingt mich eine seichte Stelle, dort klettert Karenina zur Isar hinab, fordert, schwarz und fellig, ein leidenschaftliches Spiel ein: Stöckchen ins Wasser, ein Mut getränkter Sprung in die ungewisse Kühle, stürmische Eroberung einer selbst erwählten Beute, weltenumspannender Triumph am kleinen Kiesstrand: Nach jedem erfolgreichen Schwimmgang schüttelt die Hündin ihr Fell kräftig aus, Fontänen aus Isarwasser ergießen sich über mich. Gedanken von gestern nach morgen und übermorgen lösen sich prickelnd auf, die Hündin zieht mich ganz in ihr Hier und Jetzt. Munter erinnert sie mich und sich schon während des Schüttelns an die Gloria dieses Spiels und tanzt aufmunternd zur nächsten Runde um mich herum. Die Wassertropfen, die Begeisterung und meine befreite Gegenwärtigkeit, das Morgenlicht, sind wie ein erfrischender, plötzlicher Regen, der auf mich herabfällt und mich zum Lachen bringt. Mein verdrehtes Herz beruhigt sich langsam. Meine Gedanken fliegen herzwärts. Langsam wird es weiter in mir. Ich sehe ihn. Er muss mich wohl schon eine ganze Weile beobachtet haben, als er meine Gegenwart erobert.

 

Er spricht nicht mit mir. Ist neben mir, unerwarteter, ungeladener Gast, und lässt sich von Kareninas nächster Wasserfontäne nassregnen. Dann schnappt er sich das Stöckchen, macht ein paar, Karenina offenbar vertraute Laute, und wirft den Stock in hohem Bogen hinaus auf die Isar. Karenina stürzt sich mit doppelt-glorreichem Mut in die Fluten, schwimmt, fasst den Stock und rudert ehrgeizig, Wasser schluckend, leise gurgelnd, gegen die leichte Strömung ankämpfend, zurück ans Ufer. Wieder werden wir willenlos nassgespritzt, wieder muss ich willenlos lachen. Ungeladenes Lachen. Wieder habe ich das Gefühl, dass mein eingesperrtes Herz ein Stück mehr Platz in meinem Brustraum bekommt. Neben mir ein anderes Lachen. Ein Hier-und-Jetzt-Lachen, ein Was-kostet-die-Welt-Lachen, ein Klar-bin-ich-jetzt-da-Lachen. Mit einer absoluten Gegenwärtigkeit will sich dieses Lachen für immer in mein Herz setzen. Am Grund meiner verrückten Welt höre ich, dass mein Leben mit diesem Mann endlich, aber erbarmungslos Fahrt aufnimmt.

 

Seine bloße Anwesenheit in meinem Leben radiert meine vertraut-zugeschnürte Traurigkeit aus. Seine Energie wird in diesem einen Moment zu meiner Energie. Seinen Tatendrang, seine Lust am Leben stülpt er mir über, als sei es ein neues, unerhört prächtiges Kleid. Nach nur wenigen Atemzügen in seiner Gegenwart, bin auch ich nicht mehr zu halten. Meine Suche nach Sicherheit werfe ich hoffnungsbereit in die Isar, ertränke sie in den alten Tränen. Ich verliebe mich in meine eigene neue Haltlosigkeit, denn sie macht es mir möglich, diesem Dädalus zu folgen. An seiner Seite verliere ich sekundenschnell die Angst vor dem Leben. Ich lasse die vielen Rituale, die ich zum Überleben brauche, hinter mir her schleifen, sie verlieren ihre genau abgemessene Bedeutung. Ich erobere das Gefühl, näher am Leben zu sein, als am Abgrund. Ich vergesse die Gräber der anderen, lasse den Faden der Trauer los, den ich durch mein Leben gesponnen habe. Verliere die Angst vor dem Glück und meine Abgründe aus den Augen. Ein einziger Stockwurf hat mich wach geküsst und mich gleichzeitig von mir selbst weggezogen. Er gibt mir das Leben zurück und stiehlt im gleichen Augenblick meine Geschichte. Mit der überbordenden Spannweite seiner Leidenschaft, übernimmt er zur selben Zeit mein Herz. Seine Gegenwart umhüllt mich mit einer Geborgenheit, die im Grunde nichts anderes ist, als ein Hundeleckerli, das ich Karenina zuwerfe, damit sie brav mit mir mitläuft. Und ich werde brav mitlaufen, denn es ist das verlockendste Angebot, das ich seit langem bekommen habe.